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Walter Felsenstein

Buchtipp

Als Walter Felsenstein 1947 die Komische Oper mit Johann Strauß‘ „Fledermaus“ eröffnete, war er 46. Die Sowjetischen Kulturoffiziere der Vier-Sektorenstadt übertrugen dem schon damals berühmten Wiener Regisseur das nur geringfügig zerstörte Metropol-Theater an der Behrenstraße, um es als Städtisches Operettenhaus wieder aufzubauen. Da er mit einer jüdischen Frau verheiratet gewesen und problemlos entnazifiziert worden war, wurden ihm überall Intendanzen und Oberspielleiterposten angeboten – u.a. in Wien, Basel, Leipzig, West-Berlin (Städtische Oper). Felsenstein entschied sich für Ostberlin. Nicht, weil er Kommunist gewesen wäre, sondern weil ihm hier freie Hand gegeben wurde, sich seinen Lebenstraum einer Reformoper zu erfüllen und neue Produktionsstrukturen zu etablieren.

Während es zum Felsenstein der Komischen Oper eine Fülle an Literatur gibt, war zu dem vor 1947 so gut wie nichts bekannt. Diese Lücke füllt meine „dokumentarische Biographie“. Sie basiert in der Hauptsache auf den von mir entdeckten knapp 160 Briefen, die der Regisseur zwischen 1925 und 1951 an seine erste Frau schrieb und uns ein anschauliches Bild von seinen künstlerischen Absichten und Erfolgen, von den Bedingungen, unter denen damals in der Provinz, aber auch in der Hauptstadt des Deutschen Reiches Theater gemacht wurde und unter denen er ab 1933 als Gatte einer Jüdin im Dritten Reich arbeitete, zu emigrieren versuchte, aber nicht konnte.

Da es sich um eine theater- und kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges handelt, sind sie hier mit einer Ausnahme vollständig veröffentlicht. Das Bild wird ergänzt durch Rezensionen, die Felsensteins Inszenierungen und diejenigen, die ihn beeindruckten, plastisch werden lassen, durch seine zahlreichen theoretischen Überlegungen jener Zeit, durch Dokumente aus Ämtern, Archiven, von Freunden und Verwandten, die uns berichten, unter welchen Schwierigkeiten und wie er arbeitete. Bereits 1934 wollte er in Frankfurt am Main das Modell „Komische Oper“ realisieren. Ab 1936 durfte er nicht mehr an staatlich subventionierten Theatern arbeiten. Als Cineast hoffte er vergeblich in Hollywood unterzukommen, schmiedete Pläne für Argentinien, Südafrika und Australien, entwarf 1938 in Berlin ein Programm für eine Opernschule, das er an der Komischen Oper dann realisierte und ging schließlich als Operettenregisseur nach Zürich. Ab 1939 arbeitete er wieder in Berlin. Heinrich George, der geniale Schauspieler und Intendant des Schiller-Theaters, hatte seine Wiederaufnahme in die Reichstheaterkammer durchgesetzt. Dort musste Felsenstein zum Teil schlimme Propagandastücke inszenieren. Er tat es offenbar so, dass sie sich selbst ad absurdum führten. Das Propagandaministerium konnte nicht dagegen vorgehen, ohne die eigene Ideologie lächerlich zu machen. Weitere Einladungen führten ihn zu den Salzburger Festspielen, zu Karajan nach Aachen, nach Düsseldorf, Metz und Straßburg.

Während dieser Zeit fiel nahezu die gesamte Familie seiner Frau dem Nazi-Terror zum Opfer. Felsenstein aber gelang es, seine Gattin zu retten: in demselben Dorf, in dem Adolf Hitler seine verleugnete Schwester Paula Wolf vor der Öffentlichkeit verbarg. Boris Kehrmann

Boris Kehrmann: Vom Expressionismus zum verordneten "Realistischen Musiktheater". Walter Felsenstein - Eine dokumentarische Biographie 1901-1951, Marburg: Tectum-Verlag, 1364 Seiten, € 79,95