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Roland Schimmelpfennig: Ja und Nein

Buchtipp

Poetik-Dozenturen geben dem Publikum die Möglichkeit, in die Werkstatt literarischen Schreibens zu kiebitzen. Im Falle von Dramatikern kann man das bei Publikumsgesprächen zwar auch. In der Vorlesung hat es der Autor aber selbst in der Hand, welche Themen er anspricht und welchen Grad von Vollständigkeit er anstrebt. Sie ist authentischer.

Roland Schimmelpfennig, Autor von über 40 Stücken und Hörspielen seit 1994, die in Berlin am Deutschen Theater vor allem von Jürgen Gosch inszeniert wurden, hatte Anfang 2013 Gelegenheit, seine Theorie dramatischen Schreibens bei der 2. Saarbrücker Poetikdozentur darzulegen. Er beginnt mit dem Bekenntnis, dass er keine Theorie habe, da er in Geschichten denke. Sein Ansatz ändere sich von Stück zu Stück. Darum ist jede seiner drei Vorlesungen aus Ausschnitten eigner oder fremder Texte und allgemeinen Reflexionen, die sich nur zum Teil aus diesen Texten ergeben, zusammengesetzt. Oft sprechen die Texte auch für sich. Der Leser soll das Allgemeine selbst aus ihnen erschließen. Praktische Einübung in Lesekunst.

In der 1. Vorlesung hält Schimmelpfennig fest: „Theater ist Spiel“. Die eigenen Texte, die er vorstellt, wirken aber oft wie Monologe, auch, wo sie auf verschiedene Rollen verteilt sind. Es ist, als fände die Interaktion nicht mehr zwischen Menschen, sondern im Bewusstsein der sprechenden Figuren statt, die im Innern bereits vorausnehmen und artikulieren, was der Andere sagt und tut. Der Mehrwert des Theaters vor der Prosa scheint bei dieser Form der Dramatik darin zu liegen, dass der Text zu einem Bedeutungsträger wird, der permanent und live von unterschiedlichen Akteuren mit Bedeutung aufgeladen wird: Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner, Kostümbildner, Musiker, Zuschauer usw. Aus dem Dia-Log zwischen Leser und Buch wird ein Poly-Log vieler Beteiligter: Ein polyzentrisches Gewebe zur Herstellung von Bedeutung.

Trotz Tendenzen zum Monolog, zur Textfläche, die Schimmelpfennig seit 20 Jahren beobachtet, besteht er darauf, dass die Dramatik Figuren benötige, die Geschichten erleben. Der Leib des Schauspielers auf der Bühne ist nicht abschaffbar. Trotzdem erklärt er in der 3. Vorlesung, warum es ihn als Dramatiker reizt, Figuren eine Geschichte nicht mehr in Dialog und Handlung vor uns entstehen, sondern sie einfach erzählen zu lassen: Es ist schneller und schafft Raum für mehr Details. Es ermöglicht ihm, auch surreale Bilder blitzschnell aufzurufen: Ein Mann öffnet seine Haustür und steht in der Sahara. Schließlich ermöglicht es, Menschen darzustellen, die sich vor lauter widersprüchlicher Wahrnehmungen nicht mehr zurechtfinden.

Aber es gibt auch einen ganz einfachen Grund: „Inzwischen wimmelt es in meinen Texten von Dingen und Inhalten, die auf dem Theater des reinen Dialogs keine Chance mehr hätten.“ (S. 75) Warum dann aber überhaupt noch Theater? Weil Schimmelpfennig den Dialog zwischen realen Menschen auf der Bühne und im Zuschauerraum nicht aufgeben möchte. Darum verwischt sein Theater die Grenzen zwischen Erzählen und Spielen. Das Theater soll die selbsttätige Phantasie jedes einzelnen Zuschauers anregen.

Die Vorlesungen werden im selben Band deutsch und spanisch ediert. Wir ermöglichen mit dessen Kauf, dass sie auch in Lateinamerika gelesen werden können. Boris Kehrmann

Roland Schimmelpfennig: Ja und Nein. Vorlesungen über Dramatik, Theater der Zeit, 231 Seiten, € 16,-