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Dieter Roth und die Musik

Ausstellungstipp

Dieter Roth und die Musik dürfte die monumentalste Ausstellung seit Jahren in Berlin sein. Hoffnungslos, alle Objekte, Tage- und Notizbücher, Polaroids, Selfies, Partituren, Cassetten, Gemälde, Konzert- und Performancedokumentationen, Installationen, Hörstationen, Filme, Interviews, die der Hamburger Bahnhof auf einer Fläche von nicht weniger als 3000 m2 in enzyklopädischer Vollständigkeit versammelt, zu würdigen. Transport und Aufbau müssen ein Vermögen gekostet haben. Der deutsch-schweizer Universalkünstler Roth (1930-1998) ist Mitgliedern der TheaterGemeinde als Vorbild Herbert Fritschs und Autor von „Murmel Murmel“ ans Herz gewachsen. Frei nach Kurt Schwitters’ Devise „Alles, was ein Künstler spuckt, ist Kunst“ drückte Roth sich jede Sekunde seines Lebens aus und machte jeden Augenblick öffentlich, auf dass die Öffentlichkeit seine Äußerungen mit dem Nimbus der Kunst umgebe. Roth tat, was heute jeder auf Facebook tut. Aber was ist dann Kunst?

Seine Notiz- und Tagebücher halten alles, was ihm durch den Kopf geht, im Minutentakt fest. Seine Installationen montieren den Müll, den ein Maler hinterlässt, wenn ein Kunstwerk entsteht: daraus kann man sein Leben und Schaffen rekonstruieren. Auch in musikalischer Hinsicht hat Roth alle seine fröhlichen Versuche an vielen Instrumenten, die sich oft nicht von Kindergeklimper unterscheiden, auf Musiccassetten dokumentiert. Man muss sie, z.B. das Basler „Quadrupelkonzert“, nicht unbedingt zum Kunstwerk erheben. Man kann den Nachlass auch als Klangarchiv rezipieren, das uns überliefert, was ihm am 23.2.1977 zwischen 20 und 23 Uhr durch den Kopf ging. Dass das andere Klänge sind, als heute, verleiht ihnen den Charakter eines historischen Archivs. Jeder kann es für sich selbst sichten und ordnen.

Auf anderen Cassetten nahm Roth auf, wie er Klassik-Radio hörte und dabei am Klavier klimperte. Auch das ein Archiv vergangener Informationen und Klänge. Überhaupt muss Roth die Idee der Simultanmusik fasziniert haben. An einer Installation kann man bis zu vier unabhängig von einander entstandene Tonspuren gleichzeitig hören. Per Knopfdruck entscheidet man, welche. Das hat seine eigene Schönheit. Freilich eine, die sich nicht nach Regeln des klassischen Tonsatzes analysieren lässt. Sie ist zufällig. Schließlich baute Roth einen Hybrid aus Schreimaschine, E-Piano, Cassettenrecordern und Polaroid-Kameras, der sprachliche Laute in musikalische Klänge übersetzen sollte.

Natürlich kann man all das als Kinderei abtun. Dann stellt es uns aber die Frage, nach welchen Kriterien wir Kunst definieren? Kunst entsteht, wenn wir einem Gebilde Sinn geben. Roths Werke setzen diesen Prozess der Interpretation erstaunlich zuverlässig in Gang. Manchmal scheint der Sinn seiner Musiken und musikalischen Werke sogar zu sein, uns vom Zwang zur Produktion von Sinn und wirtschaftlichen Werten zu befreien. Sie feiern das reine, zweckfreie Spiel. Das zweckfreie Spiel aber hatte Schiller als Kriterium der Kunst definiert. So lockt uns Roths Archivlabyrinth in 1000 Widersprüche. Auch in der Konfrontation mit anderen Künstlern erweist sich diese Ausstellung als höchst anregend. Nicht versäumen! Boris Kehrmann

Dieter Roth und die Musik, Hamburger Bahnhof, bis 16.8., Di-Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr, mit TG-Ausweis € 7,- (statt 14,-)