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Herbert Rosendorfers Roman "Der Meister"

Buchtipp

Herbert Rosendorfers neuer Roman Der Meister (eigentlich eine Novelle) ist eine Satire auf die Musikwissenschaft. Im Mittelpunkt steht Thomas Wibesser, ein Besserwisser, der tatsächlich alles besser weiß. Das Leben macht es ihm darum schwer. Es lässt ihn nicht fortkommen. Er kann sich ihm nur anpassen, indem er es nicht ernst nimmt. Erst da wird er mit Erfolg belohnt. Ein Paradox? Nein: Für sich schafft der Perfektionist nicht einmal die Zwischenprüfung, aber die Dissertationen Anderer schreibt er mit links.

Ein Sibelius-Buch, für einen vermögenden Schweizer Auftraggeber entstanden, gibt dem Ich-Erzähler Gelegenheit zu Invektiven gegen seinen Lieblingsfeind Adorno. Den Meister aber bringt es in Kontakt mit einem Verleger, der nicht wie der große Rechtsphilosoph Lipsius heißt, aber so ähnlich. (Rosendorfers Titel und Namen enthalten immer kleine Ratespiele, erzählen immer Nebengeschichten.) Natürlich will Leipisius das Buch nicht. Dafür gibt er Artikel für ein neues Musiklexikon in Auftrag. Der Meister verfasst Beitrag um Beitrag. Er sieht die Chance, sich zu rächen. Die Welt, die Wissen zum Broterwerb erniedrigt, will nicht Wahrheit. Sie will betrogen sein. Der Meister erfindet Komponisten, die nie gelebt haben. Bei barocken Kleinmeistern mag das noch angehen. Da produziert der Betrieb ohnehin „Entdeckungen“ am laufenden Band, die gleich wieder vergessen werden. Kein Mensch kann das noch überblicken. Auch der Leser wird lachend Zeuge einer solchen Barockopernausgrabung. Bei lebenden oder jüngst verstorbenen Komponisten wird die Sache gefährlich.

Wibessers fiktiver Tonsetzer mit dem Pseudonym Thremo Tofandor (in verballhorntem Latein: Ich fürchte mich, genannt zu werden) erwacht zu wissenschaftlichem Eigenleben. Die Forschung beginnt zu kreißen. Dissertationen werden geschrieben, Symposien veranstaltet, Werke „entdeckt“ (in Wirklichkeit alte Werke, mit Dissonanzen gespickt, zerhackt, gespiegelt, neu zusammengesetzt und avantgardistisch uminstrumentiert), herausgegeben und uraufgeführt. Der Apparat rotiert global um ein Zentrum, das leer ist. Hier zu verraten, mit welchem unerhörten Ereignis die Novelle endet, wäre unfair. Aber die Geschichte besitzt einen wahren Kern. 1972 gelang es einem Dozenten des Münchner musikwissenschaftlichen Instituts tatsächlich, einen fiktiven Komponisten in Riemanns renommiertes Musik-Lexikon zu schmuggeln. Von dort wanderte Otto Jägermeier von Nachschlagewerk zu Nachschlagewerk – allerdings als mehr oder weniger offenes Geheimnis für Insider und Beispiel eines gelungenen Ulks. Herbert Rosendorfer hat dieses Sujet immer wieder variiert.

„Der Meister“ enthält eine Art erzählender Musikkritik in Novellen-Form und ist gespickt mit wunderbaren Typen, die alle einen Kern Wahrheit verkörpern. Mein Favorit ist Professor Goblitz, der die Theorie vertritt, dass Musik nicht zum Hören, sondern zum Lesen da sei und heimlich für den „Kleinen grünen Kaktus“ schwärmt. Erinnert wird die Geschichte des „Meisters“ bei einem opulenten Mahl zweier Freunde, die sich 50 Jahre nach ihrem Studium zufällig in einem (übrigens empfehlenswerten) Restaurant in Venedig wieder treffen. Einer von ihnen war viele Jahre Chefdramaturg der Deutschen Oper Berlin. Boris Kehrmann

Herbert Rosendorfer: Der Meister.
Edition Elke Heidreich/Bertelsmann, 160 Seiten, € 16,99