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Mahlers 2. Sinfonie

CD-DVD-Tipp

Hat es Sinn, sich ein Sinfoniekonzert auf DVD anzuschauen? Im Falle der 2. Sinfonie von Gustav Mahler, wie Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester Leipzig sie zur Eröffnung des Internationalen Mahler-Festes am 17. und 18. Mai 2011 im Leipziger Gewandhaus (einer DDR-Kopie der Berliner Philharmonie) aufgeführt und der Regisseur Henning Kasten sie abgefilmt haben, schon.
Kastens Kamera entscheidet sich für drei Optionen. Entweder hält sie direkt auf das Gesicht des Dirigenten oder sie zeigt Chöre und Orchester in der Totale oder sie hebt einzelne Stimmen heraus. Die erste Variante ist besonders bei dem 58-jährigen Mailänder Dirigenten, der seit 2005 das Leipziger Eliteorchester leitet und sich seit Jahrzehnten mit Mahler auseinander setzt, aufschlussreich. Live wird man sein expressives Mienen- und Gestenspiel kaum je so genau verfolgen können, wie es sich seinen Musikern zeigt und wie es hier auf DVD zu erleben ist. Es lohnt sich. Angefangen von den stillen Konzentrations-Minuten vor den ersten drei der fünf Sätze, in denen Chailly die Atmosphäre und den Klangcharakter des Folgenden in sich heraufzubeschwören scheint bis hin zu den beredten Gesichtszügen, in denen man in jedem Moment seine Interpretationsgedanken lesen kann.
Die Pausen sind nicht willkürlich. Sie stehen in der Partitur: „mindestens fünf Minuten “ schreibt Mahler vor dem 2. Satz vor, die letzten drei sollen pausenlos in einander übergehen. Es zeigt sich auch, dass ein Dirigent nicht nur Ideen haben, sondern diese auch in der Aufführung an seine Musiker vermitteln muss. Chailly fordert mimisch und gestisch immer mehr, als er tatsächlich von seinen Musikern bekommt. Übertreibung gehört zum Geschäft des Anfeuerns.
Wenn Kasten die Kamera auf die Instrumentalisten richtet, setzt er sie so ein, dass die Hauptstimme oder wichtige musikalische Details ins Bild kommen. Das Bild hilft nicht nur, die Partitur auch ohne Notenkenntnisse bewusst zu hören. Sie macht auch auf die exquisite Klangkultur aufmerksam, die das Gewandhausorchester unter Chailly erreicht hat.  Diese Klangkultur ist die Voraussetzung für eine Interpretation von einer Entspanntheit, Zartheit und Poesie, die an ein Wunder grenzt. Entspanntheit ist das Letzte, was man von einer Mahler-Sinfonie erwarten würde. Hier wird sie in märchenhaften Nachtmusiken Ereignis. Etwa in dem geheimnisvoll webenden Notturno, das im 1. Satz die Stelle des Nebenthemas vertritt oder im „Wunderhorn“-Ton des Bi-Ba-Butzelmann-Zitats (Trompete, Flöte) gleich danach. Das Ländler-Thema des 2. Satzes (Rondo) umgibt eine zarte Wiener Wehmut à la Schubert, Strauß, Lanner. Dem 3. Satz, der Spießbürger-Parodie mit dem Hl. Antonius von Padua, der den Fischen predigt, weil die Menschen ihm nicht zuhören, ist alles Aggressive genommen. Die Fische scheinen sich wie Griegs „Peer Gynt“-Trolle in Smetanas „Moldau“ zu tummeln. Dann der samtene Posaunen-Choral, die bewegenden Englein im „Urlicht“ (Sarah Connolly) und die überirdischen Steigerungen des über 40-minütigen Finales, in denen die Seele ins Jenseits eintritt (Christiane Oelze, Rundfunkchor Berlin, MDR Rundfunkchor Leipzig, GewanhausChor). Sehr hörenswert.
Boris Kehrmann

Gustav Mahler: 2. Sinfonie. Gewandhausorchester Leipzig, Riccardo Chailly, Accentus Music, 1 DVD (88 Minuten, live)