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Ist Peter Stein der Vater des Regie-Theaters?

CD-DVD-Tipp

Die Edition Mnemosyne kombiniert seinen legendären Bremer Tasso (1969) auf DVD mit einer traditionellen Hörspiel-Lesart mit Will Quadflieg (1961)

Heute gilt Peter Stein als konservativ. Früher war er ein Bürgerschreck. Können wir im Lichte des heutigen Umgangs mit Klassikern den Skandal seiner „Stückzertrümmerungen“ noch nachvollziehen? Ist er wirklich der Vater des Regie-Theaters?

Glücklicherweise hat Stein selbst seine Bremer „Tasso“-Inszenierung von 1969 in Farbe abgefilmt. Er hat es hervorragend getan. So können wir uns ein Bild machen. Und es stimmt. Ja, Stein hat die Hälfte des Textes gestrichen, die andere Hälfte neu montiert, um eine bestimmte Lesart des Stückes heraus zu arbeiten. Es geht ihm nicht um Psychologie, sondern um Demonstration einer kritischen Idee: Künstler sind eitle Narren, die sich die Herrschenden zu ihrer Unterhaltung halten und um sich mit ihnen zu schmücken. Kommt es zum Konflikt, zieht der Künstler automatisch den Kürzeren.
Um diese Idee zu demonstrieren, hat Wilfried Minks ein demonstrativ kitschiges Bühnenbild gebaut. Der goldene Bühnenrahmen deutet den nutzlosen Luxus an, zu dem die Kunst gehört. Ein giftgrüner Flokatiteppich steht für den Park: Natur ist längst keine Natur mehr, sondern Naturersatz. Hier wird auch der Mensch verbogen. Plexiglaswände umgeben das Nippesarrangement mit lebenden Menschen wie ein Glassturz.
Die beiden Leonoren schweben flötend und fiepend wie Paradiesvögel in flatternden Jugendstil-Roben über den Teppich. Jutta Lampes Prinzessin: ein Girlie, das unglaublich blöde Sottisen über Kunst absondert, bei dem Wort „Harmonie“ regelmäßig ins Singen gerät und den armen Tasso bei „Erlaubt ist, was sich ziemt“ heiß macht, um ihn anschließend fallen zu lassen. Edith Clevers Sanvitale: eine Intrigantin wie aus dem „Denver-Clan“. Hinterhältig und gespielt schwesterlich hantiert sie mit geschliffenen Lebensweisheiten wie ein Messerwerfer. Werner Rehms Staatssekretär, bei Goethe der Realist neben dem Idealisten Tasso, ist ein jungforscher Karriereschnösel. Verächtlich zieht er die Augenbrauen hoch und provoziert betretenes Schweigen, wenn der Dichter in politicis auch mal was sagt. Wolfgang Schwarz’ Herzog im eleganten Frack des Ministers Goethe macht ganz auf kultiviert-liberal. Wenn es drauf ankommt, setzt er seine Machtinteressen rück-sichtslos durch. Und der Tasso des 28-jährigen Bruno Ganz? Ein eitler, verschwärmter Götterjüngling, der äffisch um Anerkennung buhlt und nichts als sein Talent hat, um zu leben.
Kein Zweifel: Dieser „Tasso“ wirkt auch heute noch wie eine Parodie. Allerdings keine, die sich auf Kosten Goethes lustig macht, sondern genau das tut, was der Künstler laut Tasso tun soll: „zu sagen, was ich leide“. Stein und die Seinen litten 1969 darunter, dass niemand Kunst ernst nahm, dass Kunst bloßer Zeitvertreib, Verhübschung des Lebens sein sollte. Er hat sich 1978 von dieser verkürzten Sicht eines komplexen Werkes distanziert. Seit der „Orestie“ (1980) zeigt er Theater nicht mehr als Demonstration einer Idee, sondern als Darstellung komplexer Zusammenhänge. Trotzdem bleibt der „Tasso“ des 32-Jährigen ein Geniestreich. Die Edition Mnemosyne stellt ihm eine traditionelle Lesart gegenüber: Leopold Lindtbergs Hörspielfassung mit Will Quadflieg, Ewald Balser und Aglaja Schmid von 1961. Boris Kehrmann
Zweimal „Torquato Tasso“. Peter Stein (1969, DVD); Leopold Lindtberg (1961, 2 CDs); 52-seitiges Booklet. Edition Mnemosyne HB 3011, € 35,-