Einfach mehr Kultur erleben. Mit dem Kulturservice der TheaterGemeinde Berlin

Kundenservice Mo bis Fr 10–17 Uhr

030 21 29 63 00

Ein Sammelband zum Phänomen Operette

Buchtipp

Es ist ihr lange nicht gut gegangen, der Operette. Nach der Glanzzeit in Jacques Offenbachs Paris und Johann Strauß‘ Wien und einem neuerlichen, kurzlebigen Frühling im Berlin der Weimarer Republik haben die Nazis sie vereinnahmt – und ihren Ruf dauerhaft ramponiert. Die seichten, harmlosen Schenkelklopfer-Inszenierungen der Nachkriegszeit machten sie nicht nur für die Avantgarde, sondern für weite Teile des Publikums völlig unmöglich. Von ihrer spöttischen, subversiven Kraft war nichts geblieben.
Seit einigen Jahren ist in Berlin und anderen Städten ein unverhofftes Revival zu beobachten. Vor allem Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, hat sich die Operette ans Revers geheftet. Als australischer Jude mit russischen, polnischen und ungarischen Vorfahren liegen ihm sowieso alles Hybride und der Humor, der daraus entspringt, am Herzen. An seinem Haus hat er unter anderem Paul Abrahams „Ball im Savoy“ und Offenbachs „Die schöne Helene“ inszeniert. Aber auch Herbert Fritsch an der Volksbühne, freie Gruppen wie Novoflot, die Neuköllner Oper oder das Münchner Theater am Gärtnerplatz haben sich zuletzt an der Operette versucht.
Aus einem Symposium an der Komischen Oper, das Anfang 2015 das neue Interesse an der Operette theoretisch zu grundieren versucht hat, ist jetzt der Sammelband „Kunst der Oberfläche – Operette zwischen Bravour und Banalität“ hervorgegangen. Der Begriff der Oberfläche stammt vom Offenbach-Biographen Siegfried Kracauer. In seiner Essaysammlung „Das Ornament der Masse“ behauptet er, dass man den Charakter einer Epoche viel mehr an ihren scheinbar banalen Oberflächenäußerungen erkennen könne als an den Urteilen, die sie über sich selbst hinterlassen hat, in ihren Texten etwa. Für den Musikwissenschaftler und Mitherausgeber Clemens Risi ein klarer Einspruch gegen die gängige Vorstellung, das Wesentliche sei in der Tiefe zu finden. Operette als die Oberflächenkunstform schlechthin wäre demzufolge hervorragender Zeitgeist-Indikator.
Das Buch ist zwar deutlich auf die Komische Oper Berlin fixiert und verliert andere Aufführungsorte etwas aus dem Blick. Aber die 24 kurzen Aufsätze sind anregend und trotz ihres akademischen Anspruchs flott zu lesen. Sie untersuchen das Phänomen Operette anhand der von Adorno vertretenen, heute allerdings kaum noch ernsthaft propagierten Unterscheidung von E und U, der Erscheinung der Diva in Gestalt von Hortense Schneider oder anhand der seismographischen Rolle, die die Operette in der Moderne gespielt hat, etwa bei der Entwicklung der Geschlechterrollen. Immer wieder bietet das Buch erhellende Einsichten wie die des Berliner Philosophieprofessors George W. Bertram, der darauf hinweist, dass eine Unterscheidung zwischen E und U schon deshalb sinnlos sei, weil die kritische Frage in beiden Fällen die gleiche sei, nämlich: „Ist ein ästhetischer Gegenstand eine intensivere Auseinandersetzung wert oder nicht?“
Am Ende des Buches entwirft die Performancetruppe Interrobang Visionen zur Zukunft der Operette. Sie werde gebraucht, heißt es da, weil sie aufklärerisch wirke, bewusstseinserweiternd – was in Zeiten umfassender digitaler Kontrolle und Überwachung auf jeden Fall nötig ist. Udo Badelt

Bettina Brandl-Risi, Clemens Risi, Komische Oper Berlin (Hg.),
„Kunst der Oberfläche. Operette zwischen Bravour und Banalität“,
Henschel Verlag, 224 Seiten, € 16,95