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Michael Eberth: Berliner Theatertagebücher

Buchtipp

Michael Eberths Tagebuch eines westdeutschen Dramaturgen, der 1990 von Thomas Langhoff an das Deutsche Theater im ehemaligen Ostberlin engagiert wurde, um mitzuhelfen, eine gesamtdeutsche Spitzenbühne mit Leuchtturmcharakter daraus zu machen, fasziniert von der ersten bis zur letzten Seite. Wie nahezu unlösbar die Aufgabe war, führt die Lektüre in Alltagsdetails mit einer Plastizität vor Augen, die nichts zu wünschen übrig lässt. Allein der Mitarbeiterstamm in einem Staat, in dem alle Menschen das Recht auf Arbeit bei Niedriglöhnen hatten, war gewaltig. Sieben DramaturgInnen kümmerten sich um Großes Haus und Kammerspiele. Viele Mitarbeiter waren unkündbar. Wie konnte man ihnen zumuten, Arbeitsroutinen, Grundsätze, Ästhetik, die zwei, drei Jahrzehnte galten, auf einmal zu ändern? Zumal das Deutsche Theater Gipfel jeder ostdeutschen Künstlerkarriere war? Höher ging’s nicht im DDR-Theater.

Zudem ging bei jedem Gespräch die Angst um: Angst um den Arbeitsplatz, die eigene Identität, die von heute auf morgen durchgestrichen werden konnte, weil man sein Leben nach Meinung dieses oder jenen, der vielleicht Einfluss hatte, falschen Idealen, einer falschen Kunst gewidmet oder falsch gehandelt hatte. Schließlich schwebte das Damokles-Schwert der Stasiakten über den Mitarbeitern. Diejenigen, die sie einsahen, wussten, wer im Hause was gegen sie angezettelt hatte. Diejenigen, die mitgemacht hatten, mussten alles tun, um eine Offenlegung zu verhindern. Das führte dazu, dass man bei Gesprächen über Kunst, Inszenierungen, Organisationsfragen nie wusste, ob es wirklich um Kunst ging oder darum, Boden zu verteidigen oder zu gewinnen.

Mitglieder der TheaterGemeinde werden aber auch an viele Inszenierungen erinnert, die sie selber gesehen haben, und erfahren nun, wie sie hinter den Kulissen er- und umkämpft waren. Eberth, der nur, weil er das Einkommen brauchte, bis 1996 ausharrte, nimmt kein Blatt vor den Mund. Selbst das Tabu, Erfahrungen des Dritten Reichs zur Hilfe zu nehmen, um systemische Eigenarten der DDR und das Verhalten einzelner ihrer Bürger, mit denen er täglich zu tun hat, zu verstehen, bricht er. Die Empörung darüber konnte er sich beim Überarbeiten seiner Tagebücher für den Druck ausmalen. Dass er die Stellen trotzdem nicht strich, zeigt den Leidensdruck, der sich aubaute.

Faszinierend an diesen Tagebüchern, die einer schrieb, der mit niemandem sonst darüber sprechen konnte, ist, dass man sie aus doppelter Perspektive lesen kann. Jenen Identitätsverlust, den Ossis in der Berliner Republik erlitten, erleidet nun ein Wessi im Osten. Immer wieder verlangt Eberth von Ostschauspielern, -bühnenbildnern, -kostümbildnerinnen, -fotografen, -dramaturgen, -technikern usw., sie mögen Verkrustungen im Kopf aufbrechen, selbstkritisch sein, sich dem Neuen aussetzen. Sein Tagebuch dokumentiert aber, wie schwer es auch ihm fällt, Vertrautes loszulassen. Wer soll sich bewegen? Das ist ein generelles Problem menschlicher Kommunikation, dem sich das Theater widmet. In Einheit. Berliner Theatertagebücher 91-96 wird es verstärkt durch die offenbar unbeabsichtigte Komik jener nächtlichen Szenen, in denen Eberth immer wieder vor einem schönen Glas Wein in seinem Penthouse über den Dächern West-Berlins sitzt und leidet, als wär’s ein Stück von Botho Strauss. Boris Kehrmann

Michael Eberth: Einheit. Berliner Theatertagebücher 91-96, Alexander Verlag, 344 Seiten, € 24,90