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Die Briefe des Dirigenten Hermann Levi

Buchtipp

Das erschreckende Verhältnis, das den Dirigenten Hermann Levi (1839-1900) an Wagner und seine Familie band, ist bekannt. 1975 analysierte Peter Gay es in einem viel gelesenen Aufsatz als exemplarischen Fall von jüdischem Selbsthass (heute in „Freud, Juden und andere Deutsche“). Stephan Mösch vertiefte das Bild 2009 in seiner Studie über die ersten Jahrzehnte der Bayreuther Festspiele „Weihe, Werkstatt, Wirklichkeit“. Nun erlaubt Dieter Steils 418-seitige Auswahl aus dem umfangreichen Briefwerk des bedeutenden Dirigenten und durchsetzungsfähigen Theatermannes, die ebenso kluge wie taktvolle Stimme des warmherzig-humorvollen Menschen und kultivierten Bildungsbürgers selbst zu vernehmen.

Nicht das einzige, aber bedrückendste Thema der Lektüre: Man verfolgt, wie bösartige Zuschreibungen einen begabten Menschen innerlich zerstören. Das scheint schon 1863 auf. Der 23-jährige Kapellmeister möchte von der von deutschen Kaufleuten finanzierten Oper Rotterdam nach Karlsruhe wechseln. In der Hafenstadt war sein Orchester so klein, dass er klassische und moderne Werke anpassen musste. Am besser dotierten Hoftheater hofft er durch Leistung, antisemitische Vorurteile besiegen zu können. Eine vielbeachtete Aufführung der „Meistersinger von Nürnberg“ führt 1872 zu seiner Berufung an die Münchner Hofoper und macht Wagner aufmerksam. Seit Beginn der Bayreuther Festspiele ist Levi unentbehrlich. Er stellt Chor und Orchester zusammen, übernimmt oder organisiert die musikalische wie szenische Einstudierung der Solisten und Kollektive, spürt Mitwirkende aller Art für auf, vor und hinter der Bühne auf, vermittelt, wenn der theaterpraktisch unerfahrene Wagner und seine dünkelhafte Witwe Mitwirkende vergraulen.

Beide waren überzeugt, dass Juden „Parsifal“ nicht verstehen können. Beide ließen Levi aber auch nicht los. Offenbar waren sie überzeugt, Bayreuth nicht ohne ihn realisieren zu können. Wagner starb kurz nach der von Levi dirigierten „Parsifal“-Uraufführung. Seine Witwe ließ ihren Sadismus bis zu seinem Tod an Levi aus. Die Briefe enthüllen sie als Psychopathin. Cosima hielt Juden für minderwertig. Sie hasste sich, dass sie von Levi abhängig war, bestrafte ihn dafür und war ihrer Zeit ein halbes Jahrhundert voraus.

Warum er sich unterwarf, machen seine eigenen Worte in ihren feinen Nuancen deutlicher als jede Nacherzählung. Dass ihn Wagners Musik beglückte wie keine andere, ist der nachvollziehbare Teil seiner Konstitution. Und wie das Werk, verehrte er dessen Schöpfer und seine Familie. Atemberaubend aber ist, dass er auch Wagners Antisemitismus teilte. Er hielt die Diagnose von der kulturellen Impotenz der Juden aus Wagners Schandschrift „Das Judentum in der Musik“ für richtig und sah sie in seinem eigenen Scheitern als Komponist bestätigt. Juden sprach er „vornehmen Gang, ruhige Bewegungen“, schöne Stimme ab („alle Jüdinnen schreien“). Schuld- und Minderwertigkeitskomplexe machten ihn wehrlos, obwohl er alles durchschaute. Seine so schafsinnigen wie deprimierenden Briefe legen nahe, darin kein weiteres Defizit („jüdischen Selbsthass“) zu sehen, sondern die unheilvolle Psychodynamik, dass Opfer von Vorurteilen sich mit diesen identifizieren. Boris Kehrmann

Wie freue ich mich auf dieses Orchester! Briefe des Dirigenten Hermann Levi. Ausgewählt und kommentiert von Dieter Steil, Verlag Dohr, 456 Seiten, € 49,80