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Alfred Polgars unbekanntes Marlene-Portrait

Buchtipp

Alfred Polgar (1873-1955) war ein Meister deutscher Sprache. Seit 1895 glossierte er erst das Wiener, dann auch Berliner und allgemeine Theaterleben mit Texten, die schon zu Lebzeiten Kultstatus genossen. Sie machten ihren Autor zum Klassiker der Theaterkritik.

Polgars Hauptstilmittel war dialektische Ironie. Er griff Redensarten, Geflügelte Worte, Denkschablonen auf, verkehrte sie in ihr Gegenteil und zog aus der überrumpelten Erwartung nicht nur prickelnde Pointen, sondern Erkenntnisgewinn. Über Marlene Dietrich schrieb er z. B., sie filme „die elegante Verführerin, den Vampir, abgekürzt: Vamp, der Gentlemen das Blut oder zumindest das Geld aussaugt (was in den meisten Fällen das Gleiche ist)“. Die anstrengende, da nicht chronologisch voranschreitende, sondern in kleine Sequenzen zerstückelte Filmarbeit charakterisierte er „als Vamp, der, unersättlich, Geist und Blut und Nerven seiner Oper frisst, und in den die Gefressenen doch rettungslos verliebt sind.“ Womit wir das Wesen des Vamps besser verstehen, als wenn wir Polgar nicht gelesen hätten.

Wenn Porträtist die Kunstmittel der Dietrich kapitelweise vom Gesicht bis zu den Beinen durchgeht, heißt es über ihre Stimme: „Ich entsinne mich nicht, ob Marlene jemals in einer ihrer Rollen geweint hat, aber sie kann Tränen sprechen.“ Beim Vorsingen für den „Blauen Engel“, der „Die Zweite von links“ aus dem Stand auf eine „Höhenlage etwa gleich der des Paramount Everest“ katapultierte, hatte sie „Jupiterlampenfieber“. Damit spielt Polgar geradezu fühlbar auf das „höllische Feuer“ der extrem heißen Filmscheinwerfer von 1930 an, „in dem brennen muss, wer in die zeitliche Seligkeit des Ruhms eingehen will“.

Das Wesen seines Gegenstandes und seine eigene Sprachkunst fängt Polgar letztgültig ein, als er den Star nach seinem Lieblingspartner auf der Leinwand fragt: „Über Marlenes Antlitz fällt der Reflex des Reflexes eines Lächelns. In dieser stimmungsvollen Beleuchtung sagt sie: »Die amerikanischen Kollegen haben so gute Manieren!«“ Marlenes Wirkung beruht auf dem Reflex eines Reflexes. Ihre Höflichkeit weist die indiskrete Standardfrage, die sie zwänge, alle anderen Partner zu diskreditieren, zurück, indem sie sie beantwortet und nicht beantwortet. Das ist höchste Sprachkunst verbunden mit höchster Lebenskunst.

Entnommen sind die Beispiele einem 64-seitigen Porträt, das Marlene Dietrich 1937 bei dem von ihr hoch geschätzten Kritiker bestellte, um ihm Lohn und Brot zu verschaffen. 1933 war dem Unübersetzbaren der deutsche Markt weggebrochen. Als 1938 auch der österreichische wegbrach, verschwand das Manuskript in den Koffern der New Yorker Erben, in denen es 1984 wieder entdeckt wurde. Heute, 30 Jahre später, hat Polgars Bewunderer, Biograph und Editor Ulrich Weinzierl es im Zsolnay-Verlag zugänglich gemacht. Seinem umfangreichen Nachwort sind die Details seiner Entstehung und der Freundschaft Polgars und Dietrichs zu entnehmen.

Neues, gar Pikantes plaudert Polgar nicht aus. Dazu ist er zu höflich. Aber sprachlich bewundernswert und menschlich bereichernd ist dieser wie jeder Polgar-Text. Auch, wenn man ihm die Verzweiflung ihres Autors angesichts der weltpolitischen Lage und sein leichtes Unbehagen angesichts einer Auftragsarbeit anmerkt, bei der er nicht ganz frei war. Boris Kehrmann

Polgar: Marlene. Bild einer berühmten Zeitgenossin, Zsolnay-Verlag, 160 Seiten, € 17,90