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Peter Brook: Mein Shakespeare

Buchtipp

Eine junge Theaterfrau sagte mir neulich etwas sehr Einfältiges über eine sehr kluge Inszenierung. Sie (die Inszenierung) sei konventionell, weil sie (die junge Theaterfrau) keine „Idee“ in ihr erkannt habe. Leider hatte ich da Peter Brooks wunderbares Buch "Mein Shakespeare. The Quality of Mercy" noch nicht gelesen. Dann hätte ich ihr einfach geantwortet, was Alexander Korda dem jungen Brook sagte: „Sogar ein Koch kann eine Idee haben.“ Stattdessen versuchte ich ihr plausibel zu machen, welche Ideen meiner Meinung nach HINTER der Inszenierung stünden. Nicht VOR dem Stück. Das Gespräch war müßig. Sie kannte das Stück nicht. Und wollte es auch gar nicht kennenlernen.

Was es heißt, ein Stück theatralisch zu ergründen, umkreiste der mittlerweile 90-jährige Peter Brook vor zwei Jahren in seinen neun Annäherungen an verschiedene Shakespeare-Dramen. Sie betreiben auf 160 Seiten nicht Textinterpretation sondern sammeln Erfahrungen, die der kosmopolitische Regiepatriarch bei seinem lebenslangen Versuch machen konnte, Shakespeare-Worte auf der Bühne zum Leben zu erwecken. Darum nämlich geht es im Theater. Nicht Figuren und Situationen in irgendeine Idee-Schublade zu sperren, sondern sie so zu sprechen und zu spielen, dass sie ihren maximalen Aussageradius entfalten können. Brook vergleicht Shakespeare-Verse mit einem Handschuh, in den die Schauspieler schlüpfen und ihn beleben müssen, wie eine warme, lebendige Hand.

Wie macht man das? Brook beschreibt unterschiedliche Schauspieler, um unterschiedliche Herangehensweisen zu konturieren. Laurence Olivier arbeitete daran, genau das, was das Publikum an „Titus Andronicus“ albern und lachhaft vorkam, zu einem Moment grausiger Wahrheit zu machen. Seiner Frau Vivien Leigh gelang es, in den blutigsten Verstümmelungen die Hoffnung auf eine andere Welt aufscheinen zu lassen. Sir John Gielgud hatte einen sechsten Sinn für Sprache. Sein Körper führte ihn dazu, den Wortklang so zu modulieren, dass sich ein ganzer Fächer von Bedeutungen auftat. Als er aber begann, sich mit Interpretationen zu beschäftigen, war es mit seiner Intuition dahin. Er verhedderte sich in Alternativen, die er alle gestalten wollte, und verlor den intuitiven Draht zur Sprache. Sir Alec Guiness hingegen weigerte sich im „Lear“ strikt, über Bedeutungen zu reden. Er versuchte so leer wie möglich zu spielen, damit die Sprache von ihm Besitz ergreifen konnte.

Brook berichtet über seine Erfahrungen mit „Titus Andronicus“, „Hamlet“, „Romeo“, „Verlorene Liebesmüh“, „Maß für Maß“, „Coriolan“. Besonders gewichtig ist die Korrektur des traditionellen „Lear“-Bildes, die er nicht philologisch, sondern aus der menschlichen Aussage und der Arbeit mit Schauspielern am Text ableitet. Er sieht das Stück als Demontage eines gewöhnlichen, befehlsgewohnten Machers, wie er als Typus mehr oder weniger ausgeprägt in jedem Tyrannen steckt. Die gewohnte Beherrschung der Wirklichkeit entgleitet ihm radikal, bis er vor becketthaftem Nichts steht. Der Blick in die totale Unbeherrschbarkeit und Sinnlosigkeit zeugt nicht nur das, was wir Lears Wahnsinn nennen, sondern führt ihn auch zu jener Demut zurück, die uns angesichts der Schöpfung anstünde.

In eine ähnliche Richtung weist der ergreifende Schlussessay über den „Sturm“. Prospero, der Ästhet, lebt in Büchern, statt als Herzog Verantwortung für seine Mitmenschen zu übernehmen. Als er vertrieben wird, rächt privates Unrecht. Auch er muss Demut lernen: Es geht nicht um das Leid, das ihm zugefügt wurde, sondern um das, das er andern zufügte. Brook schildert, wie lange er mit seinen Schauspielern suchte, um herauszufinden, was sich hinter den so banal bis unverständlich klingenden Schlussversen verbirgt. Da hilft es nichts, Theorien aufzustellen und die Verse abzutun. Auf dem Theater muss spielend versucht werden, hinter die Wahrheit, die Dichte, den Geschmack der Worte zu kommen und zu fühlen, wie sie sich anfühlen. Das alles lässt sich nur als Theater erfassen und führt weit über Worte hinaus.

Ein besonderer Höhepunkt ist natürlich auch das Kapitel über die Entstehung der berühmten „Sommernachtstraum“-Inszenierung von 1970. Hier erhält man über sie Informationen aus erster Hand. Ein Büchlein, das in Format wie Inhalt zu einem Vademecum für jeden Theaterliebhaber werden kann. Boris Kehrmann

Peter Brook: Mein Shakespeare, Alexander Verlag Berlin,
160 Seiten, 14,90 Euro