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Cry Baby - Aufführung des Jahres 2018/19

Die Mitglieder der TheaterGemeinde Berlin haben die Inszenierung Cry Baby zur „Aufführung des Jahres“ (Spielzeit 2018/19) gewählt. Die Preisverleihung fand am 20. Januar 2020 im Deutschen Theater Berlin statt.

Ist es ein Traum?

„Cry Baby“ ist die Aufführung des Jahres 2018/19

Gewundert haben sich die Mitarbeiter:innen und die Mitglieder des Vorstands der TheaterGemeinde, als das Stück „Cry Baby“ von Autor und Regisseur René Pollesch zur „Aufführung des Jahres“ für die Spielzeit 2018/19 gewählt wurde. Gewundert haben sich – so berichtet die Schauspielerin Sophie Rois in ihren Dankesworten am 20. Januar, dem Abend der Preisverleihung – die Macher:innen und Darsteller:innen von „Cry Baby“. Warum so viel Erstaunen über die eindeutige Entscheidung der Mitglieder der TheaterGemeinde für dieses Stück?

Nun, „Cry Baby“ hat keinen erkennbaren Handlungsbogen. In „Cry Baby“ wird über alles Mögliche gesprochen – Banalitäten, soziologische Theorien, Insider-Informationen aus der Berliner Theaterwelt – aber nicht immer ist verständlich, warum wann worüber geredet wird. Und ob das Gesagte nun ernst oder ironisch gemeint ist. Oder gar beides? Aber vielleicht zunächst einmal: Was ist denn „Cry Baby“, wenn es doch kein klassisches Theaterstück ist? Es ist ein Stück, das durch ein wunderbares Bühnenbild (Barbara Steiner) und großartige Kostüme (Tabea Groß) besticht: Der auf die Bühne hin verlängerte Zuschauerraum zeigt, dass wir uns auch auf der Bühne im Theater befinden – die Welt als Bühne? Oder die Welt als Schlafzimmer? Denn neben den hinzugefügten, quasi verdoppelten Proszeniumslogen, ist es ein überhoher, rokokohaft mit Papageien und Äffchen zart bemalter Vorhang, der die Bühne beherrscht. Die Kostüme bestehen aus farbenfrohen Pyjamas (einer schöner als der andere), Morgenmänteln und einem weißen Nachthemd. Haupt-Requisit ist ein goldgelbes, fahrbares Doppelbett. Die ersten Worte der überragenden Sophie Rois sind dann auch: „Oh mein Gott! Ich bin so müde…“. Sie wirft sich aufs gemütliche Bett, doch schnell wird ihr der Platz vom Chor (12 Schlafanzug-tragende junge Schauspielerinnen unter der Leitung von Christine Groß) streitig gemacht.

Dann gibt es Anspielungen auf einen der großen Müden der Literaturgeschichte, auf Kleists schlafwandelnden Prinzen von Homburg. Den spielt Sophie Rois plötzlich, spricht seine Todesfurchtszene. Der Chor wird zum Kleistschen Erschießungskommando. Allerdings nennt er sich modern nun ErschießungsTEAM. Zur Erinnerung: der Prinz sollte erschossen werden, da er in der Schlacht zu Fehrbellin zwar einen Sieg errungen, sich aber nicht gehorsam verhalten hat. Vor dem Erschießungskommando dann sieht er seinen Fehler (Fehler?) ein, bettelt nicht mehr wie zuvor um Gnade, sondern will heldenhaft den Tod erleiden – und wird am Ende doch begnadigt. Als ihm die Freiheit verkündet wird, fragt er ratlos: „Ist es ein Traum?“

Während in Kleists Stück als geschlossenem Drama die Einheiten von Ort, Zeit und Handlung gegeben sind, ist bei Pollesch alles offen, nicht einmal eine Einheit der Person gibt es. So ist beispielsweise Sophie Rois zwar hin und wieder mal der Prinz von Homburg, aber beileibe nicht nur dieser. Sie ist Duellpartnerin des Jesuitenpaters Bernd Moss, der vorher – großartig und meckernd – einen Zuschauer gab und aus der Loge Theaterinterna ausplauderte. Sie ist – vielleicht – sie selbst; zumindest aber eine Schauspielerin, die vorgibt, nicht genau zu wissen, was Liebhabertheater ist. Theater voller Liebhaber? Theater, bei dem man fürs Mitspielen bezahlt? Und auch Christine Groß und Judith Hofmann werden zu Figuren aus dem „Prinzen von Homburg“, um dann plötzlich und schnell aus den Rollen zu fallen und über Mietwucher, Geld, Erfolg und das Kommunikationsverhalten wie tot wirkender Mitmenschen zu plaudern.

In ihrer Laudatio beschrieb Renate Jungehülsing vom Vorstand der TheaterGemeinde die Vergnüglichkeit der außergewöhnlichen Aufführung: „Vergnüglich ist die Schnelligkeit des ganzen Abends, das schwindelerregende Tempo, mit denen die Themen gewechselt werden, vergnüglich ist die Musik, vergnüglich der hämisch lachende und bitterlich weinende Chor.“ Intendant Ulrich Khuon lobte die hervorragende Zusammenarbeit mit der TheaterGemeinde und freute sich über die Häufigkeit von Preisverleihungen in seinem Haus. Und stellvertretend für das Ensemble des Stückes wunderte sich Sophie Rois anerkennend über den Mut der Mitglieder, ein Stück zu wählen, das mit herkömmlichen Sehgewohnheiten bricht.

Ebenfalls vergnüglich war im Anschluss an die Preisverleihung der Sektempfang, bei dem Zuschauer:innen wie Schauspieler:innen, Intendant und Mitarbeiter:innen der TheaterGemeinde über den Sinn des Theaters, des Lebens, über Geld und Mietwucher sprachen. Theaterliebhaber:innen? Liebhaber:innentheater?

Renate Reimers