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Das Dinner – Aufführung des Jahres 2024

Die Mitglieder der TheaterGemeinde Berlin haben die Inszenierung »Das Dinner« mit großer Mehrheit zur Aufführung des Jahres 2024 gewählt.

Die Inszenierung nach dem Roman von Herrmann Koch (Regie: András Dömötör) feierte seine Uraufführung am 26. Oktober 2024. Es spielen Ulrich Matthes, Maren Eggert, Bernd Moss, Wiebke Mollenhauer u. a.

Die Preisverleihung fand am 22. Juni 2025 im Rahmen einer Festvorstellung im Deutschen Theater Berlin statt. Den Publikumspreis „Aufführung des Jahres“ vergibt die TheaterGemeinde Berlin seit 1982.

Bei dem Preis handelt es sich um eine künstlerisch gestaltete Urkunde im Plakatformat. Sie wurde im klassischen Buchdruck (Letterpress) von der Druckerei Bölling gedruckt.

Laudatio zur Preisverleihung, gehalten von Renate Jungehülsing

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder und Freunde der Theatergemeinde, sehr geehrte Frau Senatorin Wedl-Wilson, sehr geehrte Frau Laufenberg!

Ich begrüße Sie herzlich und erlaube mir, mich kurz vorzustellen: Mein Name ist Renate Jungehülsing, ich bin im Vorstand der Theatergemeinde.

Nachdem ich am 27. Oktober letzten Jahres die Premiere des „Dinners“ besucht hatte, war ich sicher, die kommende Aufführung des Jahres gesehen zu haben. In der darauffolgenden Vorstandssitzung berichtete ich von meiner Einschätzung – meine Kollegin und meine Kollegen von Vorstand und Geschäftsführung fanden mich, fürchte ich, ein wenig zu ‚siegessicher‘. (Zumal wir uns ja erst ganz am Anfang der neuen Spielzeit befanden.)

Aber Sie, liebe Mitglieder der Theatergemeinde, haben mich nicht enttäuscht und mit großer Mehrheit, nämlich mit 44 Prozent der Stimmen, „Das Dinner“ gewählt. Auf dem zweiten Platz mit 29 Prozent landete das Programm „William Forsythe“ des Staatsballetts, den dritten Platz erreichte die Volksbühnenaufführung „ja nichts ist ok“ von René Pollesch mit 17 Prozent.

Foto: Renate Jungehülsing (Vorstandsmitglied TGB)/Colya Zucker

Doch nun soll weder von mir noch von Zahlen die Rede sein, sondern von der großartigen Aufführung, die wir gerade gesehen haben.

Familie oder Moral – das ist hier die Frage. Familie oder Moral – wie ist dies Dilemma zu lösen? Mit Kant ist die Thematik schnell entschieden: „Handle so, dass die Maxime deines Wollens jederzeit zum allgemeinen Gesetz werden könne“ lautet das Prüfverfahren für moralische Fragestellungen. Die Maxime von Claire, Paul und wohl auch von Babette heißt: Für das Wohl unserer Kinder vertuschen wir einen Totschlag. Kann irgendjemand wollen können, dass die Vertuschung von Verbrechen aus persönlichen Gründen zum allgemeinen Gesetz werde? Nein! Das Dilemma ist mittels einer universalistischen Pflichten-Ethik einwandfrei gelöst.

Aber das Stück würde uns ja nicht so berühren, nicht so ins Mark treffen, wenn wir diese Art der Zwickmühle nicht kennen würden. Nein, sagen wir uns, natürlich kein In-Schutz-Nehmen bei hinterhältigen Verbrechen. Aber hier mal ein Auge zudrücken, da mal mit nicht ganz lauteren Mitteln eine bessere Note oder einen Studienplatz erkämpfen, dort mal telefonieren zum Vorteil des eigenen Nachwuchses – so what. Im privaten und weltpolitischen Rahmen wird die Ethik des Egoismus salonfähig. Doch nun vom Was zum Wie: Wie wird die moralische Fragestellung in dieser Inszenierung von András Dömötör sinnfällig gemacht? Die erste Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand: durch das hervorragende Spiel aller Beteiligten.

Ulrich Matthes als Paul Lohmann verführt zunächst mit liebenswürdig-zynischer Ablehnung der Schickeria-Welt seines Bruders. Doch ehe wir uns versehen, wird der erzählende Lehrer, wird die Identifikationsfigur mit Vorliebe für Normalo-Kneipen zur Inkarnation der Skrupellosigkeit. Übertroffen in Kaltblütigkeit nur von seiner Frau Claire. Diese stellt Maren Eggert zunächst als kompromissfähige Schwägerin dar, deren Pragmatismus die aufbrausende Art ihres Ehemanns charmant ausgleicht. Doch auch hier zeigt sich nach und nach hinter der bürgerlich-sympathischen Fassade eine raffiniert planende Bosheit mit viel Vergnügen an Gewalt.

Bei dem von Bernd Moss dargestellten Serge Lohmann verläuft die Entwicklung entgegengesetzt. Während zunächst nur karikaturhaftes Benehmen und schrille Eitelkeit sichtbar werden, wird er zum Schluss der Einzige sein, der glaubhaft nach einer moralischen Lösung des Dilemmas sucht.

Babette, die heute von der für Wiebke Mollenhauer eingesprungenen Daria von Loewenich bravourös gespielt wird, Babette in ihrer Unberechenbarkeit, in ihren emotionalen Ausbrüchen hätte man eine solche Suche auch zugetraut – aber dann möchte sie doch gar zu gern die künftige First Lady der Niederlande werden, entscheidet sich also für den Ruhm und gegen die Aufrichtigkeit.

Für den dem moralischen Kammerspiel angemessenen Rahmen sorgen Andri Schenardi mit seinem Lobgesang auf die Olive aus der Peleponnes, Jens Koch mit einem Don Quijote würdigen Kampf gegen den Weinkorken und Carlo Krammling als charmant-ungeschickter Kellner bzw. diabolischer Sohn mit Unschuldsmiene und ohne Schuldbewusstsein.

So viel zum großartigen Ensemble. Die Kennzeichen der Inszenierung von Andras Dömötör sind eine klar strukturierte Handlung und ein sauberer Spannungsbogen – klassische Merkmale des „well-made plays“. Solch „gutgemachten Stücken“ wird gern vorgeworfen, sie seien zu wenig innovativ, zu vorhersehbar.

Doch die Mitglieder der Theatergemeinde haben entschieden: dies gutgemachte „Dinner“ spielt mit Vorhersehbarkeiten, enttarnt erwartete Rollenbilder, bleibt im Halse stecken und verhandelt in rasantem Tempo und mit furioser spielerischer Lust ein relevantes und äußerst aktuelles gesellschaftliches Problem.

Dies „Dinner“ ist die Aufführung des Spielzeit 2024/25 – ich habe es vorhergesehen.

Vielen Dank an Andras Dömötör und an das famose Ensemble!

Herzlichen Glückwunsch!

Renate Jungehülsing
Stellvertretende Vorsitzende
TheaterGemeinde Berlin e. V.


Hier finden Sie die Rede von Regisseur András Dömötör zur Preisverleihung und zur Aufführung des Jahres.