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Joachim Meyerhoffs neuer Roman

Buchtipp

Die Schauspielschule ist eine knallharte Zweiklassen-Gesellschaft. Getrennt durch ein Talent – entweder auf Knopfdruck weinen zu können, oder eben nicht. Auf der einen Seite wird also die „schauspielerische Oberschicht“ ausgebildet, der „heulende Hochadel“, dem echte Tränen über die Wangen rinnen. Auf der anderen Seite müht sich „das Fußvolk, das theatralische Protelariat“ mit vors Gesicht geschlagenen Händen vergebens um authentische Emotion. Joachim Meyerhoff zählt zur letzteren Kaste, die er mitleidlos beschreibt: „Die Ausgetrockneten, das Dörrobst, die Tränenlosen“. Es ist eine von vielen Szenen aus Meyerhoffs Roman „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“, die einem die Welt des Theaters ungeahnt selbstironisch, verklärungsfrei und sagenhaft amüsant nahebringen.  

Meyerhoff, heute als Schauspieler in der Oberliga von Bühnen in Hamburg, Wien und Zürich zuhause, hat schon vor Jahren einen autobiografischen Erinnerungs- und Erzähl-Zyklus unter dem Titel „Alle Toten fliegen hoch“ auf die Bühne zu bringen begonnen. Was sich auf eine „Alle Vögel fliegen hoch“-Variante bezieht, die seine kauzige Tante Thia mit den Kindern zu spielen pflegte, um den Überblick über die irdische Präsenz in der weitläufigen Verwandtschaft zu behalten. Fliegt der Onkel Konrad hoch? Nein, der wohnt in Düsseldorf, der lebt noch. Die sechs Teile dieser wunderbaren Reise durch die eigene Vita – Teil eins bis drei waren 2009 auch zum Theatertreffen eingeladen – hat Meyerhoff zu einer Roman-Trilogie verdichtet, die nach „Alle Toten fliegen hoch: Amerika“ und „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“ nun mit „Ach, diese Lücke“ ihren krönenden Abschluss findet.

 Die Lücke, um die es hier geht, ist einerseits ein geborgtes Zitat aus Goethes „Werther“. Ein Text, den Meyerhoff als junger Schauspiel-Anfänger zum Ego-Shooter-Monolog mit Selbstmordfinale verdichtete und mit dem er unermüdlich tourte. Am Abend Vorstellung in Kassel, die früh beginnt, „weil ich mich schon am nächsten Morgen um elf in einer Schulaula in Mainz erschießen musste“, wie er schreibt. Die Lücke verweist aber genau so auf die eigene Familiengeschichte, auf den Tod des mittleren Bruders, der eine nicht zu füllende Leerstelle hinterlassen hat. Und auf das Sterben der Großeltern, denen Meyerhoff mit dem Roman eine skurrile, berührende, wunderschöne Liebeserklärung widmet. Während seiner Schauspielausbildung an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule wohnt er bei diesen höchst eigensinnigen Alten. Bei Großmutter Inge Birkmann, selbst Schauspielerin, und Großvater Hermann Krings, einem Philosophen, deren Tagesablauf von munteren Alkohol-Ritualen strukturiert wird.

 Wie Meyerhoff den „Sechs-Uhr-Whiskey“ in der großelterlichen Villa in Nymphenburg beschreibt, das allein beweist sein enormes Talent, aus einem Familien- ein Poesiealbum zu machen, ganz kitschfrei und todkomisch. Der Mann ist ein viel zu passionierter Ich-Erzähler, um sich dabei bloß an Verbürgtes zu halten, an die nackten Fakten eines Lebens. Er füllt Gedächtnislücken und fiktionalisiert auch lustvoll die eigene Biographie. Aber wahrhaftig wird seine Erzählung gerade dadurch. Im Wesen betreibt Joachim Meyerhoff als Schreibender eine herzergreifende Vermisstensuche nach den lieben Toten, denen das Lasso der Erinnerung nachgeworfen wird. Und das ist große Kunst, auch ohne echte Tränen. Patrick Wildermann

Joachim Meyerhoff: „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Kiepenheuer & Witsch 2015, 348 Seiten, 21,99 Euro