Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter
VeranstaltungstippJedem Ende wohnt ein Zauber inne. Jedenfalls gilt das für diese Inszenierung von Christoph Marthaler an der Volksbühne. „Wo waren wir stehengeblieben?“, fragt einer aus dem Ensemble am Schluss. Und dann stimmen sie alle noch einmal kurz das berühmte „Danke“-Lied aus der legendären „Murx den Europäer!“-Inszenierung des Schweizer Theatermachers und Musikers an. Die entstand 1993 und half entscheidend mit, den Ruhm der Bühne am Rosa-Luxemburg-Platz in der noch jungen Intendanz von Frank Castorf zu begründen. Ebendiese Castorf-Ära neigt sich jetzt auch dem Ende zu, was Marthalers Stück in vielerlei Hinsicht beeinflusst. Das beginnt schon beim Raum, den die wunderbare Anna Viebrock gebaut hat: eine überlebte Ausstellungshalle mit ausgeblichenem Parkett und einem Aufzug, der sein Eigenleben führt. Ein Schelm, wer bei diesem nicht an den Museumsdirektor Chris Dercon denkt, der die Volksbühne übernehmen wird. Die Schauspieler, darunter Altea Garrido, Olivia Grigolli, Irm Hermann, Ueli Jäggi und Jürg Kienberger, werden in hölzernen Transportkisten oder in Noppenfolie verpackt hereingetragen und als lebende Objekte, für die man irgendwie keine Verwendung mehr hat, in den leeren Raum mit seinen hohen Flügeltüren gestellt. „Ich hasse diese Wanderausstellungen“, ruft die famose Irm Hermann. Freilich ist Christoph Marthaler ein viel zu beseelter Künstler, um bei solchen Verweisen auf die Kalamitäten einer Berliner Kulturpolitik stehen zu bleiben. „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ – der Titel spielt mit einem Stück von Botho Strauß – ist vielmehr eine berückend wehmütige Andacht über die Vergänglichkeit. Zur Klavier- und Orgelbegleitung stimmen die unbehausten Marthaler-Menschen Lieder von Bach, Mahler oder Schubert an. Der große Ulrich Voß legt einen entrückten Tanz mit einer Windmaschine hin, Sophie Rois hat herrliche Auftritte als italienisch singende, sonnenbebrillte Kunstmarkt-Furie. Und dazwischen flirren Zitate aus „Murx“ wie Lemuren aus goldenen Zeiten durch dieses Museum des Theater-Humanismus. Ein berauschender Abend.