"Goethe sein Vorbild" - Der Dichter und die Mendelssohns
BuchtippHans-Günter Kleins Buch über Goethe und die Berliner Bankiers- und Musikerfamilie Mendelssohn ist ein schönes Buch, weil es ein weises Buch ist. In ruhigem Tempo und abgeklärter Sprache geht der ehemalige Leiter des Mendelssohn-Archivs in der Berliner Staatsbibliothek den geistigen und leiblichen Annäherungen der beiden Großfamilien in Berlin und Weimar nach. Das beginnt bei dem Aufklärungs-Philosophen und Lessing-Freund Moses Mendelssohn (1729-1786), der Goethes „Prometheus“ als atheistisches Pamphlet ohne literarischen Wert ablehnte und selber als „der Jude“ vom jungen Goethe abgelehnt wurde. Ein klassischer Generationenkonflikt: Jung und Alt nahmen sich nicht ernst.
Dafür wurden Moses’ sechs Kinder vom Berliner Goethe-Fieber um 1800 angesteckt. Tochter Brendel (1764-1839), die sich nach der Trennung von ihrem ersten Mann und ihrer Abkehr von Judentum Dorothea (Gottesgabe) nannte, in wilder Ehe mit Friedrich Schlegel lebte, erst zum Protestantismus, dann zum Katholizismus übertrat, vergötterte Goethe zunächst (trotz seiner Fettleibigkeit: „das verdirbt einem ein wenig die Imagination!“), lehnte seine „anti-christlichen Einstellungen“ aber zunehmend ab.
Ihr Bruder Abraham blieb dem Geheimrat jedoch zeit seines Lebens treu, auch als der Mund des 73-Jährigen „schon eingefallen und das Kinn vorgetreten [waren] durch den Mangel der Zähne, der auch die Sprache undeutlich macht“. Der Bankier, der nach Pariser Lehrjahren gemeinsam mit seinem Bruder Joseph im Zuge deutsch-französischer Finanztransaktionen „in Zeiten der allgemeinen Not ohne Schaden an seiner Seele reich worden“, wie Zelter seinem Freund Goethe schreibt, liebte Musik und sang in Zelters Sing-Akademie. Zelter empfiehlt „die Orientalen“ und verrät auch den Grund seiner Herablassung: „ich habe offne Kasse bei ihm.“ Abrahams Sohn Felix’ musikalische Begabung aber begeistert sowohl ihn als auch Goethe, als der 12-jährige Felix den Geheimrat in Weimar besucht und ihm bis zu elf Stunden täglich auf dessen Hammerklavier vorspielen muss. „Er ist zwar ein Judensohn aber kein Jude“, kündigt ihn Zelter seinem Freunde an: „es wäre wirklich einmal eppes Rohres [Rares] wenn aus einem Judensohne ein Künstler würde.“ Man erschrickt. Das ist exakt der Ton aus Richard Wagners Hetzschrift „Das Judentum in der Musik“. Goethe jedoch, der Felix’ Großvater Moses 1785 noch mit einer Spinne verglichen hatte, die ihre Opfer mit „jüdischen Piffen“ „umspinnt“, um sie auszusaugen, ist gerührt: „Es ist nichts Tröstlicheres in älteren Jahren, als aufkeimende Talente zu sehen, die eine weite Lebensstrecke mit bedeutenden Schritten auszufüllen versprechen.“ Abraham aber hält die ständige versteckte Diskriminierung nicht mehr aus, tritt 1822 mit der gesamten Familie zum Christentum über und nimmt den Beinamen Bartholdy an (nach einer Meierei in der Köpenicker Straße). Er möchte, dass sein Sohn den jüdisch klingenden Vatersnamen unterdrückt. Der aber will nicht.
Klein stellt den Fortgang der Familienbeziehungen mit neuen Erkenntnissen und Abbildungen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts anschaulich und bewegend dar. Ein knapp 40seitiger Anhang und viele Zitate im Text lassen die Quellen selber sprechen. Boris Kehrmann
Hans-Günter Klein: „Goethe sein Vorbild“. Felix Mendelssohn Bartholdy, Der Dichter und ihre familiären Beziehungen. Nach Briefen und Tagebüchern. Wehrhahn Verlag, 220 Seiten, € 20,-