A. Pringsheim - Der kritische Wagnerianer
BuchtippAm 25. Juli beginnen die 103. Bayreuther Festspiele. Wie sahen die 1. vom 13. bis 30. August 1876 unter Leitung des Meisters aus? Dazu gibt es eine anschauliche Quelle, die der Doyen der Wagner-Forschung Egon Voss im letzten Jahr herausgegeben hat. Es handelt sich um das Tagebuch von Thomas Manns Schwiegervater Alfred Pringsheim (1850-1941), der nicht nur als Mäzen den Bau des Festspielhauses unterstützte, sondern ab 5. Juli 1876 auch den Proben beiwohnte.
Pringsheim war ein Schlachtenbummler in Sachen Wagner. Der 26-jährige Münchner Mathematiker, gerade dabei, sich zu habilitieren, nahm sich eine sechswöchige Auszeit, um den meist um 17 Uhr beginnenden und aktweise vorgehenden Proben zur Bayreuther Uraufführung des „Rings des Nibelungen“ täglich beizuwohnen. So wollte er das Werk besser kennen lernen. Am Morgen spielte er sich meist den Akt im Hotel am Klavier durch, der am Nachmittag dran war. Die Proben dauerten bis 20 oder 21 Uhr. Anschließend traf sich die Wagner-Gemeinde im Gasthaus Angermeier, dem heutigen Weihenstephan, um das Erlebte mit Mitarbeitern, Sängern und ebenfalls angereisten Wagner-Dirigenten (Levi, Mottl) zu diskutieren.
Was besonders auffällt, sind Pringsheim ständige Klagen über die „miserable Akustik“ des Festspielhauses. An leisen Stellen würde man das Orchester gar nicht hören, weil Wagner es um der Verstehbarkeit des Textes willen zurück nehme. Gleichwohl sei Textverständlichkeit nicht überall zu erzielen. Das Blech übertöne die Streicher. Wichtige Nebenstimmen gingen unter. Die Violinen, selbst die acht Harfen: Fehlanzeige. Pringsheim ist verzweifelt und wütend, weil niemand etwas dagegen macht.
Ein anderes Thema sind die Tempi: Der Trauermarsch und der Auftritt der Riesen sei langsam zu nehmen, notiert Pringsheim die Anweisungen des Meisters. Gleichwohl rügt er den Dirigenten Hans Richter, er würde unerträglich schleppen. Wo immer eine Melodie sich bemerkbar mache, treibe Wagner die Sänger zur Eile an, „damit nur Niemand auf den Gedanken käme, dass dort melodisch gesungen würde“. Die Fricka sei langweilig, weil ihr jeder Ausdruck fehle. Die Riesen seien unbedeutend. Der Sieglinde habe von „Mimik und plastischer Darstellung keine Ahnung“ und werde deswegen von ihrem Siegmund dauernd herumgeschoben. Gleichwohl hält Pringsheim den trotz aller Katastrophen durchgängig gut gelaunten Wagner für einen bedeutenden „Regißeur“ und begeistert sich für das „Herunterwimmeln der Mannen von dem Felsenpfade im Hintergrunde“ in der „Götterdämmerung“. Am besten gefällt Pringsheim der Wotan von Franz Betz, der einen dramatischen Sprechgesang pflegt, was im Kreise der Sänger Anlass zu Diskussionen gibt, ob man Wagner eher singen oder deklamieren solle. Schließlich Bühnenbild und Inszenierung: Der Blick aus der Gibichungenhalle erinnert Pringsheim an das Siebengebirge bei Rolandseck, die Blümchenwiese im 2. „Rheingold“-Bild findet er fürchterlich, den in London angefertigten Drachen „kindlich“. Aber Niebelheim gefällt ihm.
Voss hat die zwölf Seiten des Pringsheimschen Tagebuches um dessen Wagner-Parodie „Der Bajazzo“ sowie andere Wagner-Schriften des Autors und um eine umfangreiche biographische Einleitung ergänzt. Insgesamt gibt der Band ein anschauliches Bild von den Aufführungsbedingungen, aber auch vom Kampf um Wagner im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Boris Kehrmann
Egon Voss: Alfred Pringsheim. Der kritische Wagnerianer, Königshausen & Neumann, 244 Seiten, € 28,-