Verdi-Reise in die Vergangenheit
CD-DVD-TippZum Verdi-Jubiläum schießen CD-Konzerne und Billig-Labels aus allen Rohren. Seit Beginn der Ton-Aufzeichnung ist der Italiener einer der meist eingespielten Komponisten. Die Backlists sind voll und können preiswert vermarktet werden. Zur Feier des 9. Oktobers (Verdis nicht ganz gesicherter Geburtstag) habe ich mir die vier Verdi-Recitals der Met-Stars nach 1945 vorgenommen. Sony hat sie technisch perfekt aufbereitet und für wenig Geld neu aufgelegt. Wie wurde damals in den USA Verdi gesungen? War wirklich alles besser?
Leonard Warren (1911-1960) war von 1939 bis zu seinem Tod während einer „Macht des Schicksals“-Vorstellung der Liebling der Amerikaner. Auf der künstlerisch unausgeglichenen Sony-Anthologie von 1955 kann man das nicht nachvollziehen. Sein Bariton ist nicht schön und die Gestaltung nicht interessant, bei Vater Germont sogar kitschig. Obwohl er die Höhe in dramatischen Partien forciert, vermag Warren erstaunlicherweise zu berühren, wenn er in lyrischen Passagen ins Kopfregister wechselt.
Gleich mittendrin ist man bei Eleanor Steber, die die „Ernani“-Cabaletta mit einer zauberhaften Vogelstimme durch endlose Koloraturgirlanden zwitschert. Ihre Elisabetta und Desdemona überraschen mit unerwartet dramatischer Kraft. Trotzdem geht die Reinheit und Süße ihres Timbres nicht verloren. Auch ihre „Forza“-Leonore ist atemberaubend. Nur Violettas „É strano“ gerät konventionell (aber bezaubernd). Die Aufnahmen stammen von 1950/51.
Dann fegt Eileen Farrell alles über den Haufen. Würde man die Steber als Nachtigall mit Pranke bezeichnen, wäre Farrell der zarte Elefant im Met-Zoo. Ihr hochdramatischer Sopran ist riesig, fleischig, leuchtend, kann sich aber zurücknehmen und alle Energien, Farben, Nuancen wie ein Laser auf einen einzigen lyrischen Punkt konzentrieren. Unvorstellbar die Breite des Ausdrucks und der Farben. Die Frau ist ein Phänomen. Wie sie mit Agogik (freies Anpassen der Tempi an den natürlichen Sprach- und Gefühlsfluss), Dynamik und einer unerschöpflichen Palette an Gestaltungsmitteln umgeht, lässt einem den Atem stocken. Vergleicht man ihre Leonoren-Cavatine („Trovatore“) mit der Anna Netrebkos auf ihrer neu erschienenen Verdi-CD (DGG), kann man letztere gleich in die zweite Reihe oder in die Kiste für Demonstrationszwecke stellen. Netrebko gestaltet „come una grande artista“, lässt uns aber nie vergessen, dass uns hier ein Star den Star vorspielt. Bei Farrell schlagen geheimnisvolles Raunen, astrale Spitzentöne, gehauchte Triller, totale Einverleibung der musikalischen Linie wieder in Natur um, dass man nicht weiss, wo die Kunst aufhört und die Figur anfängt. Das ist DIE Platte des Verdi-Jahres.
Schließlich Richard Tucker, 1950-1975 unangefochtener König der Met. In „Celeste Aida“ ist sein heller, heldischer Ton Erotik pur. In den neun anderen Arien dunkelt er sein elegant geführtes Organ baritonal ab. Dabei gestaltet er jede Phrase jedoch mit soviel Leidenschaft, dass er jedesmal tief Luft holen muss, was das Mikrophon wie unter der Lupe vergrößert. Schlimmer noch: Tucker streut großzügig Schluchzer über seinen Vortrag wie Zimt und Zucker über Milchreis. Die Frauen haben die Nase auf dieser Verdi-Reise in die Vergangenheit eindeutig vorn. Boris Kehrmann
Alle Recitals bei Sony Classical: Leonard Warren, 88765444022; Eleanor Steber, 88765444342; Eileen Farrell, 88765443712; Richard Tucker, 88765443702