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Tschechow oder Die Geburt des Modernen Theaters

Buchtipp

Anton Tschechow (1860-1904) war ein Schweiger. Der Dramatiker, berichten seine Weggefährten Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko und Konstantin Stanislawski, habe es geliebt, sich unter Leute zu mischen. Dort aber habe er lieber zugehört und beobachtet als selbst gesprochen. Da er einerseits witzig und charmant, andererseits ein prominenter Autor von Erzählungen und Kurzgeschichten war, konnte er sich das leisten.

Auch ein weiterer bezeichnender Zug gehört in diese Richtung. Tschechow liebte Theaterluft, hielt sich gern auf der Bühne, hinter den Kulissen, in den Garderoben der Künstlerinnen und Künstler auf. Seine Stücke aber erklären, den Schauspielern Interpretationshinweise geben wollte und konnte er nicht. Zu den fesselndsten, weil überraschendsten Stellen der nun erstmals auf Deutsch in größerem Umfang veröffentlichten Erinnerungen Nemirowitsch-Dantschenkos und Stanislawskis an Tschechow gehören die Beschreibungen seiner Hilflosigkeit vor Schauspielern. Er ermunterte sie kaum, lobte selten, konnte sich, wenn er etwas erläutern wollte, nicht verständlich machen und ließ nur hier und da kryptische Bemerkungen von hoher Suggestivität fallen. Die Darsteller standen vor ihm wie vor einer faszinierenden Sphinx. Stanislawski etwa, der den Trigorin in der „Möwe“ in eleganter Kleidung spielte, was Tschechow zu der erbosten Bemerkung veranlasste, Trigorin trage geschmacklos karierte Hosen und abgewetzte Schuhe. Das Äußere war ihm wichtig, weil sich für ihn der Kern einer Person an der Oberfläche manifestierte.

Dieter Hoffmeier hat die erste Hälfte der Memoiren Nemirowitsch-Dantschenkos von 1936 sowie die dichten Tschechow-Erinnerungen Stanislawskis von 1909 nicht immer stilsicher übersetzt und herausgegeben. Für theaterhistorisch interessierte Leser sind sie trotzdem interessant. Nemirowitsch und Stanislawski gründeten 1898 das Moskauer Künstlertheater, das durch Tschechow-Aufführungen berühmt wurde. Es sollte, wie Nemirowitsch schreibt, die „Diktatur des Regisseurs“ im Theater durchsetzen. Hier kann man der Entstehung des Regietheaters an einer seiner Quellen folgen. Seine Idee war es, die Aufführung als Gesamtkunstwerk einheitlich zu formen. Nemirowitsch beschreibt, was das Theater vorher darstellte: Eine Diktatur der Schauspieler, wo jeder seine Begabung und Individualität so gut er konnte in den Vordergrund rückte. Ausstattungen speziell für ein Stück gab es nicht. Die Kostüme brachten die Schauspieler mit und spiegelten ihren Privatgeschmack. Geprobt wurde wenig. Die Sprache entsprach einem musikalischen Singsang. Dem setzte Tschechow einen Kult natürlichen, beiläufigen Sprechens entgegen. Sentimentalität war ihm zuwider.

Nemirowitschs und Stanislawskis Erinnerungen sind reich an plastischen Tschechow-Anekdoten, die uns den Dramatiker lebendig vor Augen führen. Er liebte Gerhart Hauptmann und hasste den seiner Meinung nach weltfremden Ibsen. Er sah sich als Optimisten und seine Stücke als Komödien, den „Kirschgarten“ gar als Schwank, was weder der auf lyrische Stimmungsmalerei versessene Nemirowitsch noch Stanislawski verstanden. Spätestens da wird deutlich, dass die Autoren uns möglicherweise nicht den „wahren“, sondern ihren Tschechow schildern. Boris Kehrmann

Nemirowitsch-Dantschenko/Stanislawski: Tschechow oder Die Geburt des modernen Theaters. Hg. von Dieter Hoffmeier, Alexander