Schwindel der Wirklichkeit
AusstellungstippSchwindel der Wirklichkeit, die Herbstausstellung der Akademie der Künste, muss man gesehen haben. Besonders, wenn man wissen will, wohin die Künste - auch die performativen - im Zeitalter der Digitalisierung steuern. Und warum. Es bedarf keiner Sehergabe, um zu prophezeien, dass worin wir uns heute hier in Ruhe vertiefen können, morgen die Bühnen erobert. Theaterleute ließen sich immer von den Schwesterkünsten inspirieren. In diesem Falle doppelt legitim, geht es in „Schwindel der Wirklichkeit“ doch um Arbeiten, die zeigen, wie schnell wir uns von inszenierten Bildern täuschen lassen. Die Ausstellung ist ein digitales Spiegelkabinett und mit ihren vielen interaktiven Versuchsanordnungen auch für Kinder eine grenzenlose Wunderkammer und Spielweise.
Wer sich für Theater im strengen Sinne interessiert, kann ohne Eintrittskarte in der Schauspieler-Galerie Halle 2 auf Bänken kostenlos vor Monitoren 10 halbstündige Interviews verfolgen. Ulrich Matthes, Direktor der Sektion Darstellende Kunst, hat neun Kolleginnen und Kollegen eingeladen, über ihr Verhältnis als Schauspieler zu einem Umfeld zu sprechen, das an die Stelle der Repräsentation klassischer Texte und Figuren mehr und mehr die Dokumentation des Alltags mit Laien, die Selbsterfahrung der Zuschauer in performativen Versuchsanordnungen, die Zersplitterung der Identitäten und die heiß laufende Technisierung der Bühne setzt, um dem Publikum die Irreführung manipulierter Bilder vor Augen zu führen. Zu Wort kommen Josef Bierbichler (Volksbühne), Edith Clever (Schaubühne), Maren Eggert (Deutsches Theater), Jens Harzer, Fabian Hinrichs (Volksbühne), Sandra Hüller (Münchner Kammerspiele), Signa Köstler (Performerin), Ulrich Matthes (Deutsches Theater), Joachim Meyerhoff (Burgtheater) und Wiebke Puls (Münchner Kammerspiele). Sie durften sich jeweils einen Gesprächspartner ihres Vertrauens einladen. Wer sich die 310 Minuten sparen will, um sich in die Ausstellung zu stürzen, kann die 10 lohnenden Interviews für 22 Euro auch auf 2 DVDs erwerben (Spielweisen, DVD-Edition AdK Berlin, Best.-Nr. 5042).
Musikinteressierte kommen nicht nur bei Konzerten, Lectures, Performances von Hochschulen der ganzen Republik in der Ausstellung auf ihre Kosten (Programm im kostenlosen Ausstellungsmagazin in der Akademie der Künste oder www.schwindelderwirklichkeit.de). Di-So von 12 bis 17 Uhr spielt im „Metabolischen Büro zur Reparatur von Wirklichkeit“ das Yamaha-Selbstspiel-Klavier Kompositionen, die so schnell oder vollgriffig sind, dass kein lebender Pianist sie spielen kann. Um die Wirklichkeit (z.B., dass keine menschliche Hand drei Oktaven greifen kann) zu „reparieren“, wurden sie für Lochstreifenwalzen-, später für digitale MIDI-Instrument geschrieben. Faszinierend aber auch Magdalena Jetelovás „Komposition für John Cage“, deren Töne man nicht hören, sondern nur an den Vibrationen eines Spiegels sehen kann, der das Bild ständig verändert: Musik zum Sehen.
Es fällt schwer, Einzelarbeiten aus dieser großartigen Ausstellung herauszugreifen. Jede von ihnen ändert unsere Weltsicht ein Stück weit. Eigentlich müsste man sich Ferien nehmen und ein paar Tage in ihr verbringen. Man kommt verwandelt wieder raus. Boris Kehrmann
Schwindel der Wirklichkeit, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10,
Di-So 11-19 Uhr, € 7,- (bis 18 Jahre frei; für alle: Di, 15-19 Uhr frei)
bis 14. Dezember 2014