Hundert Jahre Deutsche Oper Berlin
BuchtippFür ihren Jubiläumsband Hundert Jahre Deutsche Oper Berlin haben Dietmar Schwarz und sein Dramaturgenteam einen unkonventionellen Ansatz gewählt. Die erste Hälfte der knapp 300 Seiten enthält keine reguläre Geschichte des 1912 als Aktiengesellschaft gegründeten Charlottenburger Opernhauses, sondern lässt in 20 Interviews seine heute noch lebenden Akteure vom Generalmusikdirektor bis zum Logenschließer, von der Primadonna bis zum Kinderchor zu Worte kommen. Psychologisch ist das klug. So stellt der neue Intendant zu Beginn seiner Ära nicht nur seine Mannschaft vor. Er startet auch mit einer Charmeoffensive, die alle ehemaligen und aktuellen Mitarbeiter umarmt und selbst die interviewenden Journalisten einschließt. Im besten Falle schimmert durch die Geschichten, die sie zu erzählen haben, die Geschichte des Hauses oder ein Stück Opernhandwerk durch. Dieser Teil des Buches liest sich flüssig und leicht wie eine Illustrierte.
Die zweite Hälfte, „Chronik“ betitelt, ergänzt, nach Jahren gelistet, die Fakten. Das annalistische Prinzip bringt es mit sich, dass man wenig über Hintergründe und Zusammenhänge, über die großteils wenig bekannten Sänger, Dirigenten, Regisseure, Komponisten und Werke vor allem der ersten 50 Jahre erfährt. Dafür entschädigt die reiche Auswahl an Szenen- und Künstlerfotos, die allerdings oft kaum größer als Passbilder sind. Dass das einst international bedeutende Ballett der Deutschen Oper kaum Erwähnung findet, ist dem gegenwartsbezogenen Ansatz des Bildbandes geschuldet (es wurde 2004 dem Staatsballett einverleibt, ist somit der Verantwortung Schwarz’ entzogen), bleibt aber dennoch ein schwer entschuldbares Versäumnis.
Die einzelnen Interviews, die teilweise auch in Enrique Sánchez Lanschs RBB-Dokumentation wiederkehren, sind naturgemäß unterschiedlich ergiebig. Am weitesten in die Geschichte reichen die Kindheitserinnerungen der 1918 geborenen Elfie Wendlandt zurück, deren Vater bis 1936 Tenor-Buffo des Ensembles war. Klaus Geitel lässt kaum ein gutes Haar am Deutschen Opernhaus der 40er Jahre, das für ihn keine Bürger-, sondern eine Kleinbürgeroper war. Dietrich Fischer-Dieskau hingegen schwärmt von dieser Zeit, während Julia Varady verrät, warum Götz Friedrich sie 1997 dazu brachte, ihre Karriere vorzeitig zu beenden. Karan Armstrong und Michaela Kaune steuern Erinnerungen an die Ära Friedrich bei. Der legendäre Chordirektor Walter Hagen-Groll führt uns noch einmal in die ersten Jahrzehnte des Bornemann-Neubaus zurück.
Wichtig an Opernhäusern ist es, die Kollektive bei Laune zu halten. Die Orchestermusiker der Deutschen Oper werden gleich in zwei Interviews vorgestellt. Die Statisterie, der Kinderchor, die Musikalische Studienleiterin und der Schnürboden-Meister als Vertreter der Bühnentechnik plaudern aus ihrem Alltag. Generalmusikdirektor Donald Runnicles weiht uns in seine Repertoirephilosophie und sein Verhältnis zu Wagner ein. Hans Neuenfels meint, dass nur Kerls wie er und Ruth Berghaus die Oper heute noch retten könnten. Die schönsten Interviews steuern Karl-Dietrich Gräwe, Chefdramaturg 1976-1984, und Logenschließer Michael Wessels bei. Ersterer nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um Pleiten, Pech und Pannen geht. Letzterer zeichnet ein faszinierendes Bild des sich wandelnden Zuschauerverhaltens der letzten 25 Jahre. Boris Kehrmann
Jörg Königsdorf/Curt A.Roesler (Hg.): Hundert Jahre Deutsche Oper Berlin, Edition Braus, 288 Seiten, ca. 500 Abb., € 29,95