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Christoph Schlingensief: Ich weiß, ich war's

Buchtipp

Das Unsichtbare sichtbar machen, das Sichtbare unsichtbar. Das war das Programm des 2010 gestorbenen Filmers und Aktions-Künstlers Christoph Schlingensief. „Unsichtbar“ waren z.B. die 4 Millionen deutschen Arbeitslosen im Jahre 1998, die er aufforderte, gleichzeitig im österreichischen Wolfgangsee baden zu gehen, um Helmut Kohls Feriendomizil zu überfluten. So wäre aus der abstrakten Zahl eine konkrete Realität geworden. Man hätte spüren können, wieviele Menschen mit dem schieren Überleben kämpfen und was das für Menschen sind.

Die Aktion zeigte aber etwas Anderes. 1. nahmen je nach Quelle nur 100 bis 600 Menschen daran teil, was sichtbar machte, dass die Betroffenen kein Interesse (keine Möglichkeit?) hatten, ihre Interessen (überhaupt oder nur in dieser Weise?) zu vertreten. 2. drohte Salzburgs Bürgermeister mit Subventionsentzug und reaktionärer Rhetorik, was das reale Denken leitender Herrschaften sichtbar machte. 3. waren angeblich 600 Medienvertreter anwesend, die die Botschaft einer Aktion, die nicht stattgefunden hatte, zu einer unter Zeitungslesern weltweit verbreiteten Realität machten, was sichtbar machte, dass auch das Inexistente in der Mediengesellschaft eine Existenz bekommen kann - als Gesprächsthema nämlich.

„Chance 2000“ ist nur eines der vielen Projekte, dessen Absichten, Realisierungsprobleme und Resultate man nun in Schlingensiefs eigenen Worten nachlesen kann. Seine Witwe Aino Laberenz hat Nachlasstexte unter dem Titel Ich weiß, ich war’s herausgegeben. Dabei fällt auf, dass der Performance-Künstler zu Übertreibungen neigt. Aus 4 Mio Arbeitslosen des Jahres 1998 werden 6. Wären sie tatsächlich baden gegangen, wäre der Wasserspiegel nicht um 3 m gestiegen, sondern um 2 cm usw. Aber Pedanterie war schon immer der Feind der Kunst. Bei Schlingensief geht es wie bei Shakespeare (siehe die aktuelle Diskussion um Richard III.) nicht um historische Wahrheit, sondern um Wahrheiten, die etwas aussagen. In diesem Sinne war er einer der vitalsten Anreger der letzten Jahre. Er scheute weder Konsequenzen noch Konflikte, um Widersprüche aufzudecken und hielt sich nicht an eingefahrene Schablonen. So auch in seinem letzten Buch.

Was hat das mit Theater zu tun? Zum einen inszenierte er seit 1993 auch an regulären Bühnen. Mit Stücken wie „Kühnen ‘94“ (Volksbühne, 1994) leitete er eine Wende ein. Wichtiger als das, was die Darsteller auf der Bühne machten, waren die Reaktionen, die man als Zuschauer dabei an sich bemerkte: Ekel, Würgen, Abwehrreflexe, Sympathie, schlechtes Gewissen etc. Man schaute sich selbst zu und lernte seine eigenen Grenzen kennen. Dann brachte er Behinderte auf die Bühne und man fragte sich: Warum hat man ständig diese Scham, Behinderte ganz normal als Realität anzusehen? Im Zürcher „Hamlet“ ließ er Neonazis auftreten, weil ein berühmter Hamlet von 1936, Gustaf Gründgens, als Nazi galt, der er nicht war, und man fragte sich: Warum schieben wir die Neonazis eigentlich immer weg, statt uns mit ihnen auseinander zu setzen? Schließlich fand er mit dem im Zeitraffer abgespielten Film des verwesenden Hasen (Bayreuth, 2004) eine ebenso lapidare wie tragische Visualisierung dessen, was die letzten fünf „Parsifal“-Minuten in Tönen sagen: Aus Tod entsteht neues Leben. Schlingensief hat großes Theater gemacht. Nicht nur mit seinen Real-Life-Performances auf der Straße. Boris Kehrmann

Christoph Schlingensief: Ich weiß, ich war’s. Kiepenheuer & Witsch, 292 Seiten, € 19,90