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Erwin Piscator: Briefe

Buchtipp

Erwin Piscator (1893-1966) hat Theatergeschichte geschrieben. Zumal Berliner. 1926 verlegte er, einer Aktualisierungsmode folgend, Schillers „Räuber“ in die Russische Revolution. Dann schuf er im Theater am Nollendorfplatz seine berühmten Revuen, die mit Projektion von Filmen, Dias und statistischem Material die Gegenwart komplex und sinnlich überwältigend aufarbeiteten und durchleuchteten. Das Exil (Moskau, Paris, New York) brachte ihn mit Berühmtheiten zusammen, reduzierte seine öffentliche Wirkung aber auf ein Minimum. 1951 nach Westdeutschland zurückgekehrt, kämpfte er in demütigenden Wanderjahren durch die Provinz um Anerkennung, bis ihm 1962 die Leitung der Freien Volksbühne übertragen wurde. Dort konnte er seine Form des Politischen Theaters der 20er Jahre aktualisieren und wurde mit Modellinszenierungen des „Stellvertreters“ (Hochhuth), „Oppenheimer“ (Kipphardt) und der „Ermittlung“ (Weiss) einer der Protagonisten des Dokumentartheaters.

Piscator hat in eigenen Publikationen immer wieder versucht, sein Bild in der Geschichte mitzubestimmen und insbesondere seine Vorläuferschaft in der Episierung der Theatermittel vor Brecht zu verteidigen. Am bekanntesten ist seine mehrfach aktualisierte Rechenschaftsschrift „Das politische Theater“ (1929). Nun ermöglicht es uns die knapp 4000-seitige Ausgabe seiner Briefe, diesem Leben und seinen Wandlungen aus der Innenperspektive ungeschminkt und minuziös zu folgen.

Im Granatenhagel der Westfront härtet sich die Sprache des mit „deutschem Handschlag“ grüßenden Marburger Kaufmannssohnes und Dandys, der seinen Eltern die Schauspiel-Ausbildung abtrotzte, von altklugem Getöne zu kritischer Sachlichkeit. Ohne je im regulären Engagement gewesen zu sein oder einen Abschluss gemacht zu haben, sammelt der 24-Jährige ab 1917 im Fronttheater praktische Erfahrung. Bereits 1920 plant er, gemeinsam mit George Grosz ein Theater zu gründen, das das junge Medium Film mit einbezieht (also Vorläufer der heutigen Videomanie), sowie ein „Proletarisches Theater“ mit Kortner, Deutsch, Moissi als Gästen. Die Polizeigenehmigung wurde zunächst verweigert, da die Behörden Piscators künstlerische Grundsätze ablehnten. Dazu gehörten „willkürliche Abänderung des Textes des Dichtwerkes, Improvisation und Provokation der Zuhörer“, um „Ursprünglichkeit“ (wir würden heute sagen: „Authentizität“) zu erzeugen. Piscator übernahm sie vom sowjetischen Proletkult. Vor 92 Jahren bekämpfte sie der Staat. Heute gehören sie zum Kleinen Einmaleins jedes Regisseurs und haben sich durch inflationären Gebrauch abgenutzt. Umso erfrischender ist es, den Kampf um ihre Durchsetzung zu verfolgen, als sie noch innovativ waren.

Nicht zuletzt aufgrund solcher Beobachtungen und Vergleiche auf Schritt und Tritt lässt einen die Lektüre dieser Briefe nicht wieder los. Hinzu kommen die dauernden, durch kein Geschichtsbuch wiederzugebenden Widersprüche des Lebens: Dass selbst ein linker Regisseur in der Sowjetunion permanent behindert wurde, es nach dem Krieg ablehnte, in die DDR überzusiedeln und sich ihrem intrigant bis diktatorisch agierenden, unter sich zerstrittenen Apparat auszuliefern. Aber auch in der Bundesrepublik wollte man lieber unter sich sein. bke

Erwin Piscator: Briefe. Herausgegeben von Peter Diezel.
3 Bände in 7 Teilbänden, B&S Siebenhaar Verlag, 3916 Seiten,
€ 179,80 (Teilbände einzeln € 29,80)