Kinetische Bühnen
BuchtippNebosja Tabackis Studie über bewegte Bühnenbilder, Kinetische Bühnen, bringt einen so noch nicht beschriebenen Wandel in der Auffassung des Bühnenbildes auf den Punkt. Von der Renaissance bis ins 20. Jahrhunderts wurden Bühnenbilder von Malern entworfen und gemalt. Bühnenbilder waren mehr oder weniger Gemälde. Im 20. Jahrhundert übernahmen Architekten das Ruder. Bühnenbilder wurden gebaute Räume. Im Zuge der technologischen Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg traten ihnen Ingenieure zur Seite. Bühnenbilder wurden bewegte und projizierte Räume. Heute hat sich die Technik emanzipiert. Sie dient nicht mehr, sondern führt. Zumindest tendenziell. Im Zeitalter digitaler Bildverarbeitungs- und Projektionstechnologie wird Technik selbst zum Gegenstand des Bühnen- und Weltbildes. Daher das Überhandnehmen von Videos und Handkameras in Aufführungen. Sie kann mit Inhalten verbunden sein (radikale Subjektivierung der Wahrnehmung einer Welt, deren „objektive“ Gegebenheiten in der Datenflut immer undurchschaubarer werden) oder in radikaler Eigendynamik neue Phantasiewelten erschaffen (z.B. in den gigantischen Konzertinstallationen der Rockkonzerte von Madonna oder Michael Jackson).
Innerhalb dieser übergreifenden historischen Entwicklung untersucht Tabacˇki die Pionierarbeit zweier wichtiger Szenografen der 1960er und 70er Jahre: die des heute weitgehend vergessenen Iren Sean Kenny (1932-1973), der in England und den USA arbeitete, und die des Tschechen Josef Svoboda (1920-2002). Ihre Innovationen beschreibt Tabacˇki am Beispiel von vier Inszenierungen: Lionel Barts Dickens-Musical „Oliver!“ (London, 1960; Aufführungen weltweit bis 1993), Barts Weltkriegs-Spektakel „Blitz!“ (London, 1962), Gene Kellys gefloppter Totaltheater-Show „Clownaround“ (USA, 1972) und Götz Friedrichs Londoner „Ring des Nibelungen“ (1974-76). Seinem eigenen, spannenden Anspruch, die Produktionen und Innovationen nicht nur von der Konzeptionsidee ihrer Macher her zu beschreiben, sondern auch zu schildern, wie technische, ökonomische und organisatorische Zwänge sowie die Rezeption der Zuschauer, Geldgeber, Kritiker Aufführungen und Ideen verändern und in vorher ungeahnte Richtungen leiten konnten, kommt er dabei nur unvollkommen nach. Friedrich scheint z.B. im Londoner „Ring“ auf die Kritik an dem fast pausenlos rotierenden Bühnenbild in „Siegfried“ (1975) und „Götterdämmerung“ (1976) mit einer Beruhigung reagiert zu haben. Auch scheinen seine Erfahrungen mit Jürgen Rose in Bayreuth (1972) dazu geführt zu haben, dass er den von Covent Garden favorisierten Bühnenbildner ablehnte und Svoboda durchsetzte. Um solche Fragen zu klären, fehlt Tabacˇki aber die Geduld, sich in Archive zu vertiefen. Auch scheint es dem an der Fachhochschule Dortmund forschenden Ingenieur und Bühnenbilder an theatergeschichtlichem Wissen zu mangeln, um Kennys und Svobodas Innovationen mit historischen Vorläufern und Einflüssen zu verknüpfen. Schließlich ist das Buch lausig lektoriert. Trotzdem liest man es mit Gewinn. Nicht nur seine bühnenbildhistorische Periodisierung und sein unvollkommen eingelöster methodischer Ansatz sind inspirierend. Sie dienen der Erkenntnis der Gegenwart. Auch die minuziöse Beschreibung vergessener Inszenierungen gibt ein lebendiges Bild der angelsächsischen Theaterszene der 60er und frühen 70er Jahre. Boris Kehrmann
Nebosja Tabacki: Kinetische Bühnen. Sean Kenny und Josef Svoboda - Szenografen als Wiedererfinder des Theaters, transcript Verlag, 239 Seiten, € 29,90