Geschichte der Theatergemeinden
BuchtippDer Begriff „Theatergemeinde“ entstand gleich nach dem Ersten Weltkrieg. Er bezeichnete als Besucherorganisation die bürgerliche Alternative zur sozialdemokratischen Volksbühne. Anfang der 1920er Jahre gab es Theatergemeinden in über 100 Städten des Deutschen Reichs. 1928 waren es 300. Grund des Erfolgs war die schwierige wirtschaftliche Situation. Krieg, Inflation (1922/23), Arbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise (1929) hatten zur Verarmung großer Teile der Gesellschaft geführt. Auch das Theaterwesen wurde völlig umgeworfen. Mit dem Wegfall der Höfe versiegten die „privaten“ Subventionen der Hoftheater in den Residenzstädten. Die als Aktiengesellschaften geführten Stadttheater, der Stolz kaufmännischer Mittelstädte, brachen ebenso zusammen wie die privaten Geschäftstheater. Um die Künstlerarbeitslosigkeit nicht zu vergrößern und der geistigen Verelendung der Mittelschicht gegenzusteuern, übernahm die Reichsregierung die Subventionierung. Das war 1918/19 der Beginn der heutigen deutschen Staatstheaterlandschaft.
Doch die Bühnen hatten nicht nur mit der Verarmung des Publikums, sondern auch mit neuen Freizeitangeboten zu kämpfen: Nah- (Auto!) und Fernreisen, Sport, Rundfunk, Kino gruben ihnen ihr Publikum ab. In dieser Situation waren sie den Besucherorganisationen dankbar, die ihnen neue, regelmäßige Zuschauer zuführten. Die Besucherorganisationen ihrerseits konnten ihren Mitgliedern verbilligte Karten anbieten, weil sie jeweils zu Beginn der Spielzeit Verträge mit den Theatern über die Abnahme großer Kontingente abschlossen. 1919 wurde als überregionaler Dachverband der örtlichen Theatergemeinden der Bühnenvolksbund gegründet, der einerseits bereits bestehende Gemeinden anwarb und zu energischer Tätigkeit anregte, andererseits neue Theatergemeinden gründete.
Ihm hat die Hamburger Historikerin Britta-Maria Schenk ihre 130-seitige Magisterarbeit gewidmet, die von der Berliner Gesellschaft für Theatergeschichte ausgezeichnet und veröffentlicht wurde. Schenk beschreibt im ersten Drittel ihres Buches die ökonomische Krise der Theater in der Weimarer Republik und die Organisation des BVB, um im Hauptteil seine Ideologie kritisch unter die Lupe zu nehmen. Als Quellen dienen die Zeitschriften, Handbücher und anderen Publikationen, die er in seinem kurzen Bestehen 1919 bis 1933 für seine 220.000 Mitglieder herausgab. Drei Monate nach der „Machtergreifung“ wurde er vom nationalsozialistischen „Kampfbund für deutsche Kultur“ geschluckt und dann aufgelöst.
Dem Buch geht es weniger um die Institution als um die Inhalte, für die sie stand. In ihnen spiegeln sich die Irrungen Wirrungen des Bildungsbürgertums der Weimarer Republik wider. Der BVB war christlich, national, antimodern und konservativ eingestellt, blieb der Republik gegenüber aber loyal. Er forderte ein kultisches Theater, wie es als rituelles oder chorisches Theater (Einar Schleef) wieder aktuell ist und engagierte sich in der Volksbildung mit Projekten, die an Education-Programme heutiger Bühnen, Chöre und Orchester erinnern. Die Landbevölkerung versorgte er durch eigene Wanderbühnen oder fuhr sie mit Bussen in die Städte. Auch an prominenten Mitgliedern (Joachim Tiburtius, Max Martersteig, Lothar Schreyer usw.) fehlte es ihm nicht. So konnte er seine Hauptaufgabe erfüllen: Mehr Menschen den Gang ins Theater zu ermöglichen und dem Theater neue Zuschauer zuzuführen. bke
Britta-Marie Schenk: Das Theater der Zukunft? Gesellschaft für Theatergeschichte Berlin, 174 Seiten, € 18,-