Christoph Schlingensief
AusstellungstippSelbst bei zweimaligem Besuch ist die große Christoph-Schlingensief-Ausstellung im KW nicht auszuschöpfen. Die Schau in Keller, Hof, Halle, Erdgeschoss und drei Etagen ist weniger didaktisch ausgelegt als vielmehr selbst ein Kunstwerk. Das heißt: geboten wird weniger ein klarer, chronologisch oder thematisch sortierter Überblick über Leben und Werk, Herkunft und Entwicklung des Performance-Künstlers als vielmehr Gelegenheit, selbst in sein unglaublich reichhaltiges Schaffen einzutauchen und es am eigenen Leib zu erleben. Vollständigkeit ist nicht angestrebt.
Im 3. Obergeschoss ist beispielsweise das Filmwerk in einer ästhetisch gelungenen Camera-Obscura-Situation zu sehen - gleichzeitig, was die Schwächen der Filme aufhebt. Im 2. Stock sind mit Video-Zusammenfassungen vier Theaterinszenierungen (Volksbühne, Burgtheater) dokumentiert, aber auch wunderbare Aktionen wie der Hamburger Bahnhofsgottesdienst der Erniedrigten und Beleidigten dieser Gesellschaft (73 Minuten), die Documenta-Aktion „Mein Filz, Mein Fett, Mein Hase“ (90 Minuten) oder der Simulations-Versuch einer Gesellschaft, in der jeder sein eigener Politiker=Interessenvertreter ist (94 Minuten). Wichtig und schön anzusehen ist der „Stairlift to Heaven“ im 1. Stock, ein Treppenlift, wie er für Senioren, die keine Treppen mehr steigen können, angeboten wird. Der Besucher kann sich hineinsetzen und wird beim Hochfahren ins Nichts selbst zur Projektionsfläche des „African Twintowers“-Films von 2007 und zum Ausstellungsstück für die anderen Besucher. Der Mensch ist die Kunst. Ihr Inhalt ist nicht nur das, was „geboten“ wird, sondern auch das, was er selbst dabei erlebt.
Am bewegendsten kommt dies in den großen Aktionen zum Ausdruck, von denen der Höhepunkt, „Bitte liebt Österreich“, gleich vor den KW in der Auguststraße aufgebaut ist. Die „Big-Brother“-Container mit den rechtsextremen Parolen der damaligen österreichischen Regierungspartei FPÖ und ihres Frontmannes Jörg Haider standen im Sommer 2000 eine Woche lang gleich neben der Wiener Staatsoper, mit der sich das Land als Hort der Kultur international vermarktet. Ohne den leibhaftigen Schlingensief lösen sie heute in nichts mehr aus. Man muss schon hineingehen und sich die 90-minütige Dokumentation der Aktion sowie diverse Polit-Diskussionen in voller Länge ansehen, um zu verstehen, wie die Österreicher als Volk hier selber zu Darstellern ihrer selbst wurden und die Wirklichkeit zum Gegenstand einer Kunst, die nicht mehr nach Skript arbeitet, sondern Situationen herstellt, in denen sich das wirkliche Denken und Verhalten zur Darstellung bringt.
Schaut man sich im Container die Talkshows an, versteht man auch, warum Schlingensief sie in „Freakstars 3000“ mit Behinderten und in „U 3000“ mit Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft nachspielte (beide im 1. Stock zu sehen). Die Gegenüberstellung zeigt nämlich, dass sich manchmal die „normalen“ Menschen wie Behinderte benehmen und umgekehrt. Der oft zu hörende Einwand, Schlingensief habe die Behinderten „vorgeführt“, fällt angesichts des Augenscheins in sich zusammen. Schlingensief hat ihnen Aufmerksamkeit geschenkt, sich und ihre Persönlichkeit sichtbar zu machen. Das ist von bewegender Humanität. Für mich ist Schlingensief mehr wert als Picasso. Weil er heutig ist. Boris Kehrmann
KW Institute for Contemporary Art, Auguststraße 69, www.kw-berlin.de, bis 19. Januar, Mi-Mo 12-19 Uhr, Do 12-21 Uhr, € 6,-