Jean Babptiste Lullys "Atys"
CD-DVD-TippMit Jean-Marie Villégiers und William Christies "Atys" begann die Lully-Renaissance. Diese Inszenierung ist jetzt als DVD erschienen. Viele Opernbesucher sind enttäuscht von Aufführungen, die sie nicht in ferne Zeiten entführen. Ihnen dürfte Jean-Marie Villégiers Inszenierung von Jean-Baptiste Lullys Atys (1676) gefallen. Sie ist eine Reise an den Hof des Sonnenkönigs. Die über 100 Kostüme der Solisten, Chorsänger und Tänzer sind historischen Stichen der 1680er Jahre nachgestaltet. Schauplatz der Handlung ist eines jener vieltürigen Durchgangs- oder Vorzimmer in den Schlössern Ludwigs XIV., in denen sich der entmachtete Adel eifersüchtig belauerte und einander die Plätze in der Nähe des Herrschers streitig machte. Das ganze Stück ist von Tanzszenen in barocker Aufführungspraxis durchzogen. Dort wird noch nicht auf Spitze getanzt, sondern in Hackenschuhen würdevoll auf Zehenspitzen geschritten. Statt klassischer Techniken gibt es eine große Zahl unterschiedlichster Hüpfer, Entrechats und Pliés. Hände und Ellenbogen sind eckig angewinkelt, Finger zierlich gespreizt und die plissierten Frackschöße der sich wirbelnd drehenden Herren tanzen in der Luft. Die preziöse Körperhaltung und Gestik überträgt sich auch auf die übrigen Darsteller. Das Leben bei Hofe war ein abgezirkeltes Zeremoniell, das von der Liebe des Königs zum Tanz geprägt war. Elegant war, wer sich tänzerisch bewegte.
Um eine historische Rekonstruktion einer Barockinszenierung handelt es sich bei dieser Pariser Produktion aus dem Jahre 1987, die 2011 auf Wunsch und mit den $ 3,1 Mio eines amerikanischen Millionärs neu einstudiert wurde, nicht. Barockinszenierungen hatten gemalte Kulissen (Carlo Tommasis Räume sind gebaut), Kerzenlicht, eine festgelegte Gebärdensprache und hell erleuchteten Zuschauerraum. Villégier sieht in der Geschichte des Schäfers Atys, der von der Göttin Kybele mit Wahnsinn geschlagen wird, weil er nicht sie, sondern die Nymphe Sangaride liebt, ein Spiegelbild des Lebens am französischen Hofe. Das macht plausibel, warum der Chor der Höflinge und Hofdamen immer zugegen ist und noch die intimsten Szenen kommentiert. Kybele erscheint wie eine mächtige Äbtissin, eine barocke Norma, im Kreise ihrer Nonnen. Auch der Sinn der feierlichen Musik Lullys leuchtet in den königlichen Auf- und Einzügen unmittelbar ein.
Ludwig XIV. wird immer wieder gehuldigt. Nicht nur im Prolog, wo er direkt angesprochen wird, sondern auch in der berühmten Traumszene, die das Goldene Zeitalter des Königs beschwört, oder in König Célénus, den Sangaride heiraten soll. Da sie sich weigert, nimmt sie ein schlimmes Ende, was durchaus als Drohung verstanden werden kann. Ludwigs Opern waren politische Propaganda. In ganz Europa wurde über sie geschrieben und ihr Inhalt so verbreitet.
Musikalisch schuf Lully gemeinsam mit seinem Librettisten Quinault ein neues Opernmodell: Prolog (Königshuldigung) und fünf Akte, in deren Zentrum jeweils ein größeres oder kleineres Ballett (Divertissement) stand. Darum herum Chöre und ein rezitativischer Dialog, der sich eng an das Pathos der Sprachmelodie der gesprochenen Tragödie anlehnte. William Christie hat diese barocke Musikform mit seinen Arts Florissants und einem wunderbaren Sängerensemble wieder zum Leben erweckt. Auf dieser DVD kann man es erneut als Gesamtkunstwerk erleben. bke
Lully: Atys. Les Arts Florissants, William Christie
FRAMusica 006 (Helikon), 2 DVDs