Mein Kamerad - Die Diva
AusstellungstippMan kann die Ausstellung "Mein Kamerad - Die Diva" im Schwulen Museum gegen die Absichten ihrer Kuratorin Anke Vetter betrachten. Zahlreiche, leider meist winzige Fotos, gedruckte oder handgezeichnete Plakate, Programmhefte und -blätter, Regiebücher, Rezensionen in Lagerzeitungen und Eintrittskarten erzählen nicht nur von männlichen Frauendarstellern im Ersten Weltkrieg, sondern auch die Geschichte des Front- und Gefangenentheaters zwischen 1914 und 1919 allgemein. Dabei überrascht die Breite des Phänomens. Allein 750 deutschsprachige Ensembles an der Front oder in Gefangenenlagern bis Japan hat der Theaterwissenschaftler Hermann Pörzgen bereits in den 20er Jahren gezählt. Sein Doktorvater Carl Niessen hatte deutsche Soldaten aufgefordert, dem Kölner Theatermuseum einschlägige Dokumente zu überlassen, um im Ausland das Bild vom deutschen „Barbaren“ zu zerstreuen. Stars wie Piscator oder G.W.Pabst verdienten sich hier ihre Sporen.
Aus diesem Bestand kann man nun im Schwulen Museum nicht nur Szenenfotos von Freilicht-Aufführungen der „Räuber“ im japanischen Bando, des „Wilhelm Tell“ in einem russischen Wald in Wolhynien oder des „Zerbrochenen Krugs“ auf beengter Nudelbrettbühne in Annecy bewundern, sondern auch das Front- und Gefangenentheater anderer Nationen in Deutschland. Die 5000 in Berlin lebenden Briten wurden z.B. als Kriegsgegner auf dem Gelände der Pferderennbahn Ruhleben interniert, wo sie - durch Fotos und Programmzettel dokumentiert - Komödien wie Wildes „Lady Windermeres Fächer“, Operetten wie Gilbert & Sullivans „Gondoliers“ oder Feerien wie „Cinderella“ in hinreißenden Rokoko-Kostümen spielten. Die Orchester waren, wie in einem kurzen Filmausschnitt zu sehen (es gibt deren 17 in der Ausstellung, wahrscheinlich Propaganda, um den Feinden zu zeigen, wie human man war), entweder in einem Erdgraben vor der Bühne untergebracht (im Graben von Schützengräben hatte man ja Routine!) oder, wenn die Aufführung nicht open air stattfand, vor der Bühne. Ein Foto eines französischen Gefangenentheaters zeigt ein roh zusammengezimmertes Theater mit opulent gemaltem Vorhang, zwei Gassen gemalter Kulissen und Rückprospekt. Aufgeführt wurde ein französisches Boulevardstück mit Gesang und Tanz, das man im Film sehen kann.
Berührend das Theater der algerischen Regimenter in französischem Dienst, die in ihren Stücken ihrem Heimweh nach Wärme Ausdruck gaben und gleichzeitig das klassische Spitzenballett mit Männern im Tütü parodieren. Die „Holy Boys“ der Engländer kostümierten sich als schwarze und weiße Pierrots und ließen sich vor einem Panzer ablichten. Die Russen in österreichischer Gefangenschaft verkleideten sich als Muschiks und Bären. Ihr Rücksetzer zeigt eine Landschaft mit Zwiebeltürmen.
Welche psychischen Funktionen das Front- und Gefangenentheater im Ersten Weltkrieg hatte und dass die Tradition männlicher Frauendarstellung nicht zwingend homosexuell konnotiert war, kann man im Begleitbuch der sehenswerten Ausstellung nachlesen (edition text & kritik, 132 Seiten, € 19,80). Ein allgemein zugängliches Symposion der Humboldt-Universität, Georgenstraße 47, vertieft das Thema am 8.11., 10-18 Uhr (www.kamerad-diva.de/de/symposium). Boris Kehrmann
Mein Kamerad - Die Diva, Schwules Museum, Lützowstraße 73, bis 30.11., Mi-Mo, 14-18 Uhr, Sa bis 19 Uhr, € 6,-