Die Fotografin Gisèle Freund
Ausstellungstipp„Der Porträtphotograph stirbt aus“, schreibt Gisèle Freund 1939 an Walter Benjamin. „Ursache: Amateurphotographie und Photomaton.“ Eine vielschichtige Bemerkung. Die 1908 geborene Berlinerin war selbst eine große, klassische Porträt-Photographin. Sie schuf Porträts von Malraux, Sartre, de Beauvoir, Joyce, Benjamin, Nabokov, Hesse, Shaw, Beckett, Neruda und vielen anderen, die wie Gemälde mit anderen Mitteln wirken. Dabei bevorzugte sie die leichte Leica der Amateure, um schnell und spontan auf die Gunst des Augenblicks zu reagieren.
Die mittelgroße Retrospektive, die die Akademie der Künste ihr nun mit gut 250 Abzügen widmet, hält einige Entdeckungen bereit. Da ist zunächst die Qualität der im Rahmen eines Konservierungsprojekts restaurierten Abzüge selbst. Die Farben etwa der Porträts Frida Kahlos wirken frisch wie nie, diejenigen der umwerfenden Porträts des jungen Sartre oder Malraux in unbekannter Tiefenschärfe. Man sieht das Nass des Auges, die Poren der Haut, das Grau der Bartstoppel. Die Kamera rückt den Dichtern und Denkern derartig nahe, dass man zwischen Maske und Mensch nicht mehr unterscheiden kann.
Sodann das umfangreich ausgebreitete Frühwerk. Beim 1. Internationalen Schriftstellerkongress gegen den Faschismus 1935 in Paris war die 27-jährige Soziologie-Studentin mit ihrer Leica dabei, lichtete unter unzulänglichen Lichtbedingungen die Versammlung der Großen der Zeit hastig und schnell mitten in Aktion ab: den müd-verzweifelten Kritikerpapst Alfred Kerr etwa, den schmächtigen Brecht in seinem Mao-Anzug avant la lettre, den ganz in sich zurückgezogenen Kafka-Entdecker Max Brod, Vertreter der Welt von gestern, die vollkommen bürgerlich wirkenden Vertreter der sowjetischen Delegation, die kleinen Pariser Intellektuellen mit dem großen Pathos ihrer Gesten. Ein Auftrag führte Freund in die Pariser Bibliotheken. Da die Bibliotheksverwaltung von einer professionellen Photographin eine große Ausrüstung erwartete, legte sie sich auf dem Flohmarkt eine Plattenkamera mit Stativ zu, die sie jedesmal aufwendig aufbaute, fotografierte aber mit ihrer Leica. Auf diese Weise gelangen ihr anrührende Bilder mitten aus dem Leben.
Die Ausstellung ist außerdem reich mit Kontaktabzügen bestückt, auf denen die Künstlerin alles, was sie fotografierte auf großen Bögen nebeneinander dokumentierte. Dort konnte sie die Bilder vergleichen, auswählen und Ausschnitte neu bestimmen. Wir sehen beispielsweise, dass eines ihrer berühmtesten Fotos, die Hände des Dichters James Joyce, ein Schnappschuss im Garten seines Sohnes war, aus dem die Photographin ein Detail ausschnitt, neu quadrierte und vergrößerte. In Vitrinen sieht die Zeitschriften und Magazine, die ihr ihre Fotos abkauften und die Kontexte, in die sie eingeordnet wurden.
Kein geringeres Vergnügen bereiten sodann die in Winz-Schrift kalligraphierten Briefe Gisèle Freunds. Auch sie zeigen eine penible Künstlerin und führen uns in ihren Freundeskreis ein. Neben dem oben zitierten Brief liegt beispielsweise ein ebenso kalligraphisch und winzig abgefasster Essay, den ihr Mit-Exilant Walter Benjamin ihrer Dissertation über Photographie und Gesellschaft gewidmet hat.
Ab 1957 kam Freund mehrfach in ihrer Vaterstadt zurück. Einige ihrer Fotos aus Ost- und West-Berlin sind hier zu sehen. Freund sah die Stadt als „Friedhof“ aus „freien Plätzen, Schutthaufen und hier und da aus ultramodernen Hochhäusern“. Boris Kehrmann
Gisèle Freund. Akademie der Künste, Hanseatenweg 10,
bis 10.8.2014. Di-So 11-19 Uhr, € 6,-