Nora oder Ein Puppenhaus
CD-DVD-TippWer in Ibsens Nora eine kluge Frau sieht, die sich aus der Ehehölle emanzipiert, wird an Herbert Fritschs Oberhausener Inszenierung von 2010 keine Freude haben. Fritsch, dessen clowneske „(S)panische Fliege“ von den Mitgliedern der TheaterGemeinde Berlin zur Inszenierung des Jahres 2010/11 gewählt wurde, zeigt Ibsen im Stil der commedia dell’arte. Es geht ihm nicht um psychologischen Realismus, sondern um grelle Typisierung von Haltungen der Menschen zu sich und zu einander, um das schrille Aufdecken von psychischen Motiven und Re-Aktionen. Auch im Kaspertheater, wenn es gut ist, kann Wahrheit stecken. Oder?
Zum Beispiel Nora. Victoria Behr, die phantasievollste Kostümbildnerin deutscher Zunge, hat Manja Kuhl wie eine Männerphantasie verpuppt: endlose Beine in Ballett-Schläppchen, ein Berg roter Haare, Kussmund, Klimperwimpern. Am Anfang schlürft sie barbie-haft Champagner aus eingebildeten Kelchen (es gibt keine Requisiten auf der bis auf einen Weihnachtsbaum und dem symbolisch-goldenen Boden leeren Bühne; alles wird „erspielt“ – commedia dell’arte). Wenn sie von „Geld, viel Geld“, „Aufsteigen“, „gemütlich“ fiept, wirft sie orgiastisch die Händchen in die Höhe. Wenn sie von „Einfluss“, „Macht“, „Menschen beherrschen“ grollt, ergeht sie sich in kindlichen Allmachtsphantasien. Diese Narzisstin nur eines im Kopf: Geld, Luxus, Konsum. Dafür macht sie sich selbst zur Puppe und spielt ihrem Mann das „Singvögelchen“, „Eichhörnchen“, „liebstes Eigentum“ vor, als das er sie permanent anredet. Wer das für Quatsch hält, schaue sich die Selbstdarstellung junger Frauen in Reality-Shows wie „Richterin Barbara Salesch“, „DSD“ oder „Familien im Brennpunkt“ an. Herbert Fritsch verzerrt sie zur Kenntlichkeit. Und zwar werktreu. Ibsens Stück heißt nämlich „Et Dukkehjem – Ein Puppenhaus“. „Nora“ stammt von seinem deutschen Übersetzer, der anno 1880 glaubte, dem Publikum den Originaltitel – die Frau als Püppchen – nicht zumuten zu können. Sind wir heute mutiger?
Seltsamerweise erscheinen mir die Männer dieser von Fritsch selbst kongenial verfilmten Theaterinszenierung (Schwindel Erregendes Spiel mit der Handkamera) schwächer. Der krebskranke Dr. Rank (Henry Meyer), den Helmer und Nora herzlos-hämisch immer „Dr. Krank“ anreden, spielt den lüsternen Tattergreis, der sich sterbend dadurch rächt, dass er den Weihnachtsbaum in Brand steckt. Jürgen Sarkiss, der Erpresser Krogstad, windet sich als Ekelwurm und Torsten Beyers arroganter Hellmer degradiert sein Weibchen nicht nur symbolisch zum Barbie-Baby, sondern pflegt auch sexuell eine sadomasochistische Beziehung zu ihr. Übertreibung ist Trumpf. Selbst die Flamme, mit der Krank sich die letzte Zigarre anzündet, lodert einen halben Meter hoch. Sie alle sehen, überhöht von Hitchcock-Musik und Geisterbahnbeleuchtung, wie halb verweste Zombies aus. Alles nur Noras Alptraum?
Dagegen gibt Nora Buzalka den ewigen Pechvogel Frau Linde auf vielschichtige Weise als elegante Kitschfigur aus dem Melodram des 19. Jahrhunderts. Hier spürt man gebannt, wie nah Ibsen zuweilen an der Kolportage gebaut hat. Jeder Satz wird in eine präzise Geste und Sprechmusik übersetzt. Eine grandiose Inszenierung – trotzdem oder weil sie allem widerspricht, was war als „Ibsen“ zu sehen gewohnt sind. Boris Kehrmann
Nora oder Ein Puppenhaus. Henrik Ibsen inszeniert von Herbert Fritsch, www.theateredition.com (1 DVD, 95 Min. + 25 Min. Bonus)