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Theater in Deutschland. 1945-1966

Buchtipp

Mit "Theater in Deutschland. 1945-1966" setzt Günther Rühle sein Epos des deutschsprachigen Theaters fort, das er vor acht Jahren mit „Theater in Deutschland. 1887 – 1945“ begonnen hatte. Warum 1887? Weil in diesem Jahr das moderne Theater begann: Mit Otto Brahm betrat der Regisseur, mit Gerhart Hauptmann die soziale Wirklichkeit, mit der „Freien Bühne“ das noch heute gültige Theatermodell die Szene. Warum 1945? Weil hier ein neuer Anlauf genommen wurde, es noch einmal mit dem modernen Theater zu versuchen.

Die Brüder Grimm nannten ihre „Kinder- und Hausmärchen“ ein „Hausbuch“, das man immer wieder zur Hand nimmt und abschnittweise liest. So liest man auch Rühles Folianten: Sie sind ein Kompendium aus Namen und Geschichten, detailliert genug, um anschaulich zu sein, fokussiert genug, um sich nicht in Haarspaltereien zu verlieren. Man bekommt über kurze Charakteristiken der Stücke, die zu einer bestimmten Zeit wichtig oder wiederentdeckt wurden (Stichwort Horváth-Renaissance), eine Fülle von Stoffen vermittelt, die gleichzeitig den jeweiligen Zeitgeist erhellen. Erfolge und Misserfolge berühmter oder weniger berühmter Theaterleute betten Ereignisse von theaterhistorischer Bedeutung in den dezentralisierten Theateralltag der Bundesrepublik bzw. Berlinzentrierter in der DDR ein. Was hatten sie für Biographien? Was floss aus der Kunst des Dritten Reichs in das Nachkriegstheater ein? Was aus der Emigration? Am Anfang steht die erregende Beschreibung von Jürgen Fehlings „Fliegen“ am Hebbel-Theater. Am Ende läuten Peter Zadek, Peter Stein und Rainer Werner Fassbinder eine neue Zeit ein. Sie wollen die Autoren nicht, wie ihre Vorbilder, nur stillschweigend korrigieren, sondern sezten sich auf der Bühne mit ihnen auseinander. Es entsteht das Diskurstheater, das dem Zuschauer Einfühlung verweigert und Mitsprache abverlangt. Das zu inszenierende Stück wird zum „Material“.

Die Erzählung beginnt am 24.9.1944 im Moskauer Hotel Lux, wo Maxim Vallentin Richtlinien für das neue Theater ganz Deutschlands formuliert. Ursprünglich Exponent des experimentellen Theaters an Piscators Seite, schwor Vallentin nach den Schauprozesse – aus Angst? – allem ab, was die Bühne zu einer Angelegenheit für Spezialisten machte, und bog auf Stalins Linie eines populären Massentheaters ein, das der Umerziehung der Bevölkerung im sozialistischen Sinne dienen sollte. Stellt man dem das Attribut „national“ voran, war dies in „Absicht und Methode“, wie Rühle schreibt, „nicht weit“ von der Kulturpolitik der Nazis entfernt. Sie sollte das Theater der DDR „bis in die siebziger Jahre“ beherrschen, während der „andere Teil des Landes auf die Direktiven der Westmächte, vor allem aber auf Selbstfindung verwiesen“ war. Unter diesen Vorzeichen erzählt Rühle die Geschichte des ost- und westdeutschen Theaters, wobei an jeder Bühne beiderseits der Grenzen die Machtverhältnisse zwischen traditionsverhafteten Mehrheiten und mehr oder minder geistvollen Avantgarden neu austariert werden mussten. Insofern entdecken wir auf jeder der knapp 1200 Seiten jenen Konflikt, der auch heute täglich ausgetragen wird: Kommerz vs. Innovation, Auslastung oder Anspruch. Mit Patentrezepten ist dem nicht beizukommen. Darum macht die Lektüre von Geschichten mehr Spaß als die von Theorien. Boris Kehrmann

Günther Rühle: Theater in Deutschland. 1945–1966.
S. Fischer, 1520 Seiten, € 46,-