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Gertrud-Kolmar-Ausstellung

Ausstellungstipp

Das letzte der drei Dramen Gertrud Kolmars (1894–1943) ist ein zehnseitiger Monolog: „Möblierte Dame (mit Küchenbenutzung) gegen Haushaltshilfe“. Er verdichtet das selbstgefällige Geschwätz einer vor Selbstmitleid triefenden Schnorrerin, der jede Arbeit zu viel und keine Zuwendung gut genug ist. In der kleinen "Gertrud-Kolmar-Ausstellung" im Museum Lichtenberg (Türrschmidtstraße 24, Nähe S-Bahn Rummelsburg) versteht man, dass dieser 1939 niedergeschriebene Wortschwall einen realen Hintergrund hat. Im Nachgang zur Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 erlegt der schon damals bankrotte Staat den Juden „Sühneleistungen“ auf: Enteignung qua Steuergesetzgebung. Der vermögende 77-jährige Rechtsanwalt Ludwig Chodziesner muss seine Villa in Finkenkrug innerhalb von 24 Stunden verschleudern, um zahlen zu können. Seine Kinder emigrieren. Er zahlt die immensen „Reichsfluchtsteuern“. Nur die älteste Tochter, Gertrud, durch einen Schuldkomplex aufgrund eines jugendlichen Fehltritts an ihren Vater gebunden, bleibt in Berlin, um ihn zu pflegen.

Man zieht in eine Schöneberger Vierzimmerwohnung, Speyerer Straße 10. Bald werden Vater und Tochter gezwungen, Untermieter aufzunehmen: „fremde Menschen, die meine Sachen in Besitz genommen haben“ und der Dichterin mit ihrer Distanzlosigkeit und ihrem lautstarkem Lamento die Ruhe rauben. Damen, die ein möbliertes Zimmer mit Küchenbenutzung gegen Hilfe im Haushalt in Anspruch nehmen. So schreibt sie am 15. Dezember 1942 ihrer Schwester nach Zürich. Auf einer der acht Texttafeln im Museum kann man es lesen.

Im Zentrum der Ausstellung steht aber die Arbeit, zu der die aus wohlhabenden Verhältnissen stammende Lyrikerin zwischen Juli 1941 und Dezember 1942 in einer Lichtenberger Wellpappefabrik gezwungen wurde. Der Lohn betrug RM 20,- pro Woche. Die An- und Rückfahrt zur Arbeit - mit Judenstern stigmatisiert - dauerte je eine Stunde. Zwei Filme, eine Klanginstallation und ausführliche Beschreibungen lassen den Besucher die täglich 10-stündige Schufterei von 7 bis 17 Uhr bei 50° Hitze und giftigen Klebstoffausdünstungen näherungsweise nachempfinden. Eine der knapp 40 m langen Wellpappenmaschinen hat sich erhalten und wurde dampfend und ölig gefilmt. Hans Schanderls Tonspur ist das ohrenbetäubende Crescendo und Drecrescendo der Transmissionsgeräusche und klappernden Eisenteile, das die Zwangsarbeiter tagaus tagein ertragen mussten. Das zweite Video fängt ein, was von den Fabrikhallen in der Herzbergstraße 127, die Gertrud Kolmar beschrieb, übrig blieb.

Am 7. September 1942 musste Gertruds 81-jähriger Vater ein Inventar seines verbliebenen Vermögens zwecks „Einziehung“ aufsetzen. Es ist auf einer der Tafeln reproduziert. Dann wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er kurz darauf an Entkräftung starb. Seine Tochter wechselt in eine Munitionsfabrik, in der sie am 27. Februar 1943 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wird. Als Dramatikerin dürfte sie trotz Frank-Patrick Steckels Bemühungen kaum zu retten sein. In ihre Gedichte aber sollte man sich vertiefen. Z.B. in den Zyklus „Preußische Stadtwappen“ (1927/28). Dessen Vorlagen, Sammelbilder aus den Kaffee-HAG-Packungen, sind in der Ausstellung zu sehen. Boris Kehrmann

Gertrud Kolmar als Zwangsarbeiterin in Lichtenberg. Museum Lichtenberg, bis 30. April, Di-Fr/So 11-18 Uhr, Eintritt frei