Gert Voss auf der Bühne
BuchtippFür mich war die größte Leistung von Gert Voss sein Shylock in Peter Zadeks „Kaufmann von Venedig“. Voss spielte den Geschäftsmann als Angepassten, als Mitmacher und Mitspieler, als Coolen Rechner im feinen Zwirn, der Demütigungen souverän einsteckt und verdrängt, um dazuzugehören und nur hier und da, wenn die Anbiederungen und Lügen der Yuppies zu dick werden, man eben schnell und beiläufig eine kleine, giftige Bemerkung aus der Hinterhand schießt. Das Bewusstsein, ein Außenseiter zu sein, hat diesen Dandy-Broker von der Wall Street nie verlassen. Aber er wollte die Fassade aufrecht erhalten. Bis die gar nicht so reizende Porzia ihm dann in einer ausgesprochen dummen und am Kern der Sache vorbeigehenden Wortklauberei beweist, dass es ihm an den Kragen geht, wenn er auf seine Rache nicht verzichtet. Shylock denkt eine Sekunde über seinen fatalen Strategiefehler nach und wird dann von der Schweinebande auf die Knie gezwungen, um den Scheck zu unterschreiben, der seinen Peinigern einen goldenen Geldregen beschert. Der Außenseiter kann machen, was er will. Er wird nie dazu gehören. Diese Erschütterung über ein aktuelles Thema wirkt noch 20 Jahre nach der Aufführung nach.
Gert Voss hat der Berliner Akademie der Künste 2012 über 30 Kisten Archivmaterial geschenkt. Nun ehrt ihn die Beschenkte posthum mit einem knapp 300-seitigen Bild- und Aufsatzband, in dem Weggefährten und Beobachter sein Leben und seine Arbeit seit seinem Vorsprechen 1965 bei Boleslaw Barlog Revue passieren lassen. In dem 127 Produktionen umfassenden Rollenverzeichnis kann man nachschauen, wo man ihn überall gesehen hat. Es sind solche darunter, in denen ich ihn zu glatt fand, solche, in denen er mir unvergessliche Eindrücke schuf, solche, die mein Nachdenken über Stücke, Regie, Leben oder Theater veränderten und solche, die ich gern gesehen hätte. 1976 Alfred Kirchners Stuttgarter „Woyzeck“ z.B., wo das aus vier widersprüchlichen Fragmenten bestehende Stück zweimal am gleichen Abend gespielt wurde: Die erste Textfassung mit Voss in der Titelrolle arbeitete die Eifersucht heraus, die Woyzeck zum Mord an Marie (Kirsten Dene) treibt; die zweite die Misshandlungen durch Hauptmann, Doktor, Tambourmajor, Handwerksburschen und Proletariat. Schaut man sich auf Seite 24/25 die Szenenfotos an, gehen einem die nachdenklich fragenden Augen von Gert Voss nicht mehr aus dem Sinn.
Ursula Voss, Gattin des verstorbenen Schauspielers seit 1969, hat viele Freunde zu kürzeren oder längeren Texten über ihren Mann bewegen können oder herausgesucht. Harald Schmidt, André Heller, Peter Zadeks Lebensgefährtin und Übersetzerin Elisabeth Plessen, George Tabori, der Anwalt Peter Raue, August Everding, Bundesminister Rudolf Scholten, Peter Turrini, Bruno Ganz, Tochter Grischka Voss, Gerhard Stadelmaier, Thomas Ostermeier, Karl-Ernst Herrmann, Luc Bondy und Hermann Beil berichten aus erster Hand über den Menschen und die Arbeit. Peter von Becker und Klaus Völker ordnen ihn theaterhistorisch ein. Die wunderbar reproduzierten Fotos werden durch Auszüge aus Kritiken, Konzeptionsnotizen und Interviews ergänzt. So wird ein Stück Theatergeschichte lebendig. (Boris Kehrmann)
Ursula Voss (Hg.): Gert Voss auf der Bühne,
Akademie der Künste, 292 Seiten, 284 Fotos, € 29,-