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Victor Hollaender: "Revue meines Lebens"

Buchtipp

Victor Hollaenders (1866-1940) Memoiren sind ein Lesevergnügen ersten Ranges. 1930 entstanden, schilderte der Vater Friedrich Hollaenders („Der blaue Engel“) Leserinnen und Lesern im Feuilleton des Acht-Uhr-Abendblatts vom 18. Juni bis 10. Juli 1930 in 19 Folgen, wie er zum Weltstar und Liebling des Berliner Metropol-Theaters (heute: Komische Oper) auf­stieg. Da sein Vater, ein eher dem Schach- und Geigenspiel als der Äskulaps-Kunst er­ge­be­ner, kinderreicher schlesischer Kreisarzt 1871 in die Kreuzberger Oranienstraße zog, lassen die schnurrigen Erinnerungen, mit einem Stadtplan gelesen, die Berliner Theater-Topographie von Fontane bis Hitler lebendig werden. So erfährt man, dass 10-jährige Kinder um 1875 in den Turnstunden auf der Hasenheide militärische Marschübungen absolvieren mussten oder in Maehrs Kasino in der Dresdner Straße Variété-Programme für Erwachsene aufführten. Mit Victor besuchen wie die Abonnementskonzerte der Königlichen Kapelle, die Bilse-Konzerte und „Heiratsabende“ im alten Konzerthaus an der Leipziger Straße, das, nachdem die neue Phil­harmonie in der Bernburger Straße es 1888 ersetzt hatte, dem Tietzschen Warenhaus wich, die Königliche Hofoper, deren Stehparterre Hollaender nie ohne Klavierauszug betrat, und Zauber-Shows in Potsdam.

Nach einer Aufführung des „Bettelstudenten“ im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater (heu­te: Deutsches Theater) eröffnet Hollaender seinem Kompositions-Lehrer, er wolle Ope­ret­ten-Komponist werden, worauf dieser spitz erwidert, das Genre sei ihm unbekannt. „Er kenne nur eine Operette, und das sei Carmen“! Über eine Liebhaber-Aufführung zum 60. Geburtstag sei­­nes Vaters fand „der kleine Offenbach“ den Weg auf Richard Quargs Vaudeville-Theater am Alexanderplatz, wo Ernst von Wolzogen um 1900 sein „Überbrettl“ gründete. Juden und später schlimme Nazis wirkten dort in überraschender Eintracht zusam­men.

Mit heiligem Zorn verfolgt man, wie der mittellose Komponist von windigen Theateragenten ausgenommen wird. Der „blutige“ Kritiker des „Berliner Tageblatts“ entpuppt sich als Schöp­fer des „Weißen Rössls“. In seinem ersten Kapellmeister-Engagement muss sich Hollaender mit Brülltenören plagen - keine Spezialität von heute also. Selbst Chorsängerinnen müssen ihre Kostüme selbst bezahlen. Geistreiche Verrisse und Katastrophen pflastern seinen Weg über Kolberg, Knochenmühle in Budapest, Marienbad, wo er einer „fabelhaften Kom­po­nis­tin“ dient, die keine Noten schreiben kann, Milwaukee und Chicago, wohin Hollaender mit dem Vater Richard Taubers reist und wo er den Begriff „Ruhmesge­mü­se“ für Blumen prägt, und London zurück nach Berlin.

Hier am Metropol-Theater schrieb Hollaender seit 1902 12 Revuen, die ihn weltberühmt machen. Alan Lareau hat seine Memoiren mit vielen weiteren Texten, einer bio­gra­phi­schen Skizze, seltenen Szenenfotos und Plakaten sowie einer 15-minütigen CD mit Musik­bei­spie­len mustergültig aufbereitet. Alle Fans der „(S)panischen Fliege“ an der Volksbühne wer­den dieses Buch lieben, das viel amüsanter als die „Feuerzangenbowle“ ist und ein weiteres Zim­mer im Schatzhaus der Berliner Theatergeschichte beleuchtet. Boris Kehrmann

Victor Hollaender: Revue meines Lebens, Hentrich & Hentrich Verlag, 272 Seiten + CD, € 29,90