Enrico Nawrath fotografiert das Staatsballett Berlin
BuchtippMan kann den Bildband des ehemaligen Tänzers und jetzigen Fotografen Enrico Nawrath über das Staatsballett Berlin auf mehrere Weisen „lesen“. Insgesamt ist das Buch, dessen Erlös der Stiftung Update Your Life zu Gute kommt, der Verbreitung von Respekt und Toleranz gegenüber Homosexuellen und HIV-Positiven gewidmet. Dass der Mangel des einen und/oder anderen Zeichen von Bildungsferne ist, versteht sich in aufgeklärten Kreisen von selbst. Dass Toleranz und Respekt „die Übertragung von HIV wirksamer verhindern“, wie die Stiftungs-Initiatoren im Vorwort beteuern, scheint mir gerade in Berlin weltfremd, ja gefährlich. Weil es Therapien gibt, werden infektiöse Praktiken immer „sportlicher“ riskiert. Die Zeche der Behandlung zahlt das Gesundheitssystem. Deshalb sollte aufgeklärt werden, welche Handlungen riskant sind. Alltäglicher Umgang mit HIV-Positiven gehört nicht dazu. Man kann ganz normal, angstfrei und souverän mit ihnen zusammenleben. Das wäre die richtige Botschaft gewesen.
Die Fotos selbst erzählen vom Alltag des Staatsballetts. Am Anfang ist unter dem Stichwort „Besinnung“, wie könnte es anders sein, der Rücken von Vladimir Malakhov zu sehen. Doppelseitig. Das Ballett ist ein Wunder. Auch ein Wunder an Rückständigkeit. Symbolischen Hierarchien aus dem Zeitalter der Könige haben sich bis heute gehalten. Um deren Schönheit zu bewahren, macht man sich die Zehen kaputt. Malakhovs Füße auf Seite 33 sind der Beweis.
Das Buch ist aber auch ein Lehrbuch über das Leben der Tänzer für Einsteiger. In teilweise ausdrucksstarken Bildern werden die unterschiedlichen Phasen und Übungen des täglichen Trainings gezeigt. Die Fotos sprechen für sich. Es sind nur ganz kurze Bildunterschriften nötig, um die eigenen Eindrücke mit spezifischem Wissen zu untermauern. Der Rest ist der Phantasie des Betrachters überlassen. Man erfährt, dass das Training an der Stange („Barren“) beginnt und die 1. Phase nach ausgiebigen Dehn- und Streckübungen („Exercices“) mit dem „Grand battement jeté“ endet, bei dem das Bein „möglichst bis zur Ideallinie von 180 Grad“ nach oben gestreckt wird. Die 2. Trainingsphase führt die aufgewärmten Körper mit den geschmeidig gemachten Sehnen und Muskeln in die Mitte des Probensaales, wo es, wie die Bilder eindrucksvoll zeigen, um die Eleganz der Figuren und Haltungen geht. Die 3. Phase, „Allegro“, ist den Sprüngen gewidmet, die sich in Höhe und Schwierigkeitsgrad ständig steigern.
Teil 2 versammelt Aufführungsfotos aus „Schwanensee“ vor, über und hinter der Bühne. Die Darsteller können Eingeweihte in geselliger Runde raten, weniger Eingeweihte am Ende des Buches zusammensuchen. Teil 3 „verführt“ das Corps de ballet in den Berliner Techno-Club „Berghain“ und feiert die Erotik des Tänzer-Körpers in Ketten und Latex, nicht ohne witzige Seitenblicke auf züchtige Tütü-Damen, deren entblößte Beine im 19. Jahrhundert die Männer wild machten. Diese Zeiten haben sich zum Glück geändert. Heute darf Master Malakhov seinen Lustsklaven ungeniert an der Hundekette führen, ohne Gefahr zu laufen, deswegen seinen Job zu verlieren. Boris Kehrmann
Metamorphose. Das Leben im Wandel. Enrico Nawrath fotografiert Solisten und Corps de ballet des Staatsballetts Berlin, Charity-Artbook Update Your Life, 185 Seiten, € 34,95